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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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»Gott schütze den Zaren.« Ironisches Blitzen in seinen Augen.

Ostern an der sibirischen Grenze
    4. April 1915. Tiefe Nacht. Seit Stunden das Heulen des Windes. Heinrich lauscht. Seit Stunden keine Sekunde Schlaf. Seltsame Wachheit der Gedanken. Als würde das Aufbäumen der Natur draußen auch seine Seele aufwirbeln, die nicht zur Ruhe kommt. Reglos liegt er auf dem Rücken, den Blick auf die Balken der Decke gerichtet, als wäre dort die Antwort zu finden, die er seit Stunden sucht.
    Draußen herrscht klirrende Kälte. Der harte russische Winter hält das Städtchen seit Monaten in eisiger Umklammerung. Festgefrorener Schnee, Frost auf den ungepflasterten Lehmstraßen. In dieser Nacht beginnt Ostern, doch noch immer keine Hoffnung auf Frühling. Noch keine einzige frühe Knospe hat sich durch den erbarmungslosen Winter gekämpft als Zeichen einer neuen Zeit.
    Heinrich denkt an Rudi und seine zarte Blume, die er mitgenommen hat ins Exil als Erinnerung an seine russische Heimat.
    Mehr als ein halbes Jahr hat er die Kinder jetzt nicht gesehen. Bestimmt waren sie gewachsen. Den kleinen Johnny würde er wahrscheinlich gar nicht mehr erkennen. Bestimmt konnte er jetzt schon ganz gut sprechen. Ob das Wort »Papa« für ihn noch eine Bedeutung hatte? Kinder vergaßen so schnell. Heinrich nimmt sich zurück: Keine Sentimentalitäten, kein Selbstmitleid, das hat er sich vorgenommen. Wie soll er sonst die Zeit hier überstehen, Ruhe finden, die richtigen Entscheidungen treffen und die Kraft haben, sie auch durchzustehen.
    Wenigstens ging es der Familie gut. Sie waren bis Schweden durchgekommen, hatten ein kleines Häuschen gemietet. Ab und zu erreichte ihn ein Brief, doch die Post wurde zensiert. Das machte die Korrespondenz schwierig.
    Rudis Zeilen waren voll Sehnsucht nach Moskau. Er hatte sogar von seiner Blume erzählt, die er gepreßt und in dünnem Seidenpapier im dicksten Buch versteckt hatte, das er finden konnte. Er schrieb liebevoll verträumt von seinen Erinnerungen an das Bolschoj, an Wera und Apollo. Und er schrieb von russischen Büchern,
die er jetzt las, seinen Gedanken und Gefühlen dabei, und Heinrich staunte über das wache, klare Gefühl des Jungen, seinen schon erstaunlich geschärften Geist.
    Erwin schrieb knapper, in einem Stil, der sich in merkwürdiger Weise ständig selbst zurücknahm, als wolle er die eigene Bedrücktheit verbergen, die sich dadurch aber nur um so deutlicher in seinen bemüht-erwachsenen Worten spiegelte. Heinrich hätte ihm diese Belastung so gern von der Seele genommen, doch er spürte aus jedem Wort, daß es ihm nicht gelang.
    Anna schrieb von dem kleinen Häuschen, das sie einrichtete und davon, wie schön es in Schweden sei. Jedenfalls vermutete Heinrich das, er schloß es aus den Wortfetzen, die man nicht zensiert hatte. Wahrscheinlich hatte man Angst, daß Annas Zeilen über die Schönheit Schwedens ihn zu einem Fluchtversuch animieren könnten.
    Flucht … Eine Vorstellung, die ihm anfangs so abwegig erschienen war und die nun doch immer mehr Raum in seinem Denken einnahm. Anfangs mehr eine Phantasie, eine Reise in Gedanken, doch mehr und mehr eine Vorstellung, die konkrete Gestalt annahm. Sollte er es wagen?
    Der Wind heult, eine Böe rüttelt an dem kleinen Holzhäuschen, das er gemeinsam mit drei seiner Freunde und seiner lettischen Köchin Gruscha Tenn bewohnte, die ihm ins Exil gefolgt war. Heinrich schüttelt bei dem Gedanken an sie immer noch entgeistert den Kopf: Wie ist das nur möglich: eine russische Bedienstete, die ihrem deutschen Herrn in der Not freiwillig in die Gefangenschaft folgt, als wäre es eine Selbstverständlichkeit? Heinrich lebt nun schon so lange in diesem Land, das er zu kennen meint, hat die russische Seele über Jahrzehnte mit seiner deutschen vereint, doch das Land und seine rauhen und doch so unergründlich gefühlvollen Menschen geben ihm immer noch Rätsel auf.
    Von Gruscha Tenn weiß er auch, daß sein enteignetes Wohnhaus in der Kasakowa inzwischen in ein Lazarett umgewandelt wurde: Stadtlazarett Nr. 247, und seine Datscha in Nemtschinovka vor den Toren Moskaus wurde zerstört. Für ihn sind es Nachrichten aus einer anderen Zeit, beinahe einem anderen Leben.
    Seltsam helles Licht scheint diffus durch die von Eisblumen bedeckten Fenster. Wie spät es wohl sein mochte? Wie lange lag er
wohl schon so da, den Blick auf die Decke gerichtet, allein mit seinen Gedanken, unfähig, zur Ruhe zu kommen?
    Heinrich lauscht. Nur das geheimnisvolle

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