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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Lehre, diesen grausamen Irrweg, um daraus zu lernen.
    Nach diesem Krieg, der an allumfassender Bestialität und Barbarei wohl alles bisher in einer zivilisierten Kultur Dagewesene übertraf, würde es nie mehr einen Krieg geben können, da war Heinrich sich sicher. Danach würde die Menschheit ein für allemal begriffen haben, daß die Welt von Menschen mit Kultur und Bildung regiert werden mußte. Aber das war eine Vision für eine Zukunft, die noch weit entfernt lag. Noch war dieser Krieg in vollem Gange.
    In den ersten drei Wochen hatte die russische Armee wohl tatsächlich Erfolge gegen Deutschland und Österreich gefeiert, da der österreichische Generalstabschef Conrad von Hötzendorf in einem Anflug von Leichtsinn und Fehleinschätzung noch wenige Tage vor Kriegsbeginn offenbar nicht an einen Eintritt Rußlands in den Krieg geglaubt hat und seine eigenen Truppen im Krieg gegen Serbien hatte aufmarschieren lassen. Und die deutschen Truppen waren gegen Frankreich konzentriert.
    Doch inzwischen hatte sich das Blatt längst unübersehbar gewendet, das konnten selbst die patriotisch gefärbten Darstellungen in den alten russischen Zeitungen, die man in Wjatka erhielt, nicht mehr verhehlen. Bereits Ende August wurde offenbar eine russische Armee bei Tannenberg in Ostpreußen völlig zerschlagen, und schon zwei Wochen später folgte eine weitere vernichtende Niederlage für die Russen an den Masurischen Seen. Deutschland war offensichtlich, seit General Paul von Hindenburg und Stabschef Erich Ludendorff die Truppen leiteten, auf dem Vormarsch. Die russischen Truppen waren demoralisiert, das hatte sich sogar bis nach Wjatka herumgesprochen. Aber irgendwie konzentrierten sich die ungeheuren Menschenmassen und Kräfte doch trotz allem immer wieder zu Verteidigungsschlachten und ausgedehnten Gegenoffensiven, der deutsche Sieg war nie vollständig, und es zeichnete sich noch lange kein Ende ab. Dieser Krieg würde noch sehr lange dauern, und Heinrich würde noch sehr lange in Wjatka am Ende der Welt ausharren müssen, wenn er nichts unternahm …
    Seine Gedanken drehen sich im Kreis.
    Was sollte nur aus ihm werden, hier an der sibirischen Grenze? Wie immer dieser Krieg eines Tages ausgehen würde, hier würde
er der Verlierer sein. Nach einem Sieg Rußlands würde man ihn als Deutschen Repressalien aussetzen, vielleicht sogar zum Tode verurteilen. Und nach einem Sieg Deutschlands konnte man ihn als »Russischen Verräter« brandmarken. Immerhin hatte er sein Leben hier verbracht, war diesem Land zu Diensten gewesen, hatte sogar um die russische Untertanenschaft angesucht. Wie man es auch drehte und wendete, hier, in Wjatka saß er in der Falle. Sicher, es hätte schlimmer kommen können. Man war in keinem Gefängnis, in keinem Arbeitslager, konnte sich frei bewegen - nur den Park durfte man als Deutscher nicht betreten, und seit er von seiner ersten Moskau-Reise mit 10 000 Rubel zurückgekehrt war, wurde er hier im Ort von jedem, dem er begegnete, mit Ehrfurcht und Freude begrüßt. Er war es, der diese Stadt finanzierte, das brachte ihm so manche Vergünstigung ein.
    Eigentlich ließ sich hier leben. Man traf sich abends mit den deutschen Freunden in der bodenständigen Kneipe Wjatkas, einer typischen »podvorje« mit Gastzimmern und einer Versorgungsstation für die Pferde von durchreisenden Gästen, die in jenen Tagen rar waren. Manchmal schloß sich sogar der Kommandant ihnen an. Oder man saß in den Häusern zusammen, spielte Skat, las viel, informierte sich, so gut es eben ging, über die aktuelle Kriegslage. Manche der Gefangenen hatte sogar die eigene Familie nach Wjatka geholt. Johann Kirchner und dessen Bruder Robert lebten hier mit ihren Frauen und Kindern. Man gab Einladungen, hielt Teestunden ab, als wäre man noch in Moskau und gehöre der feinen, angesehenen Gesellschaft an. Es hatte etwas Absurdes, doch man war um jede Ablenkung froh. Auch Hofphotograph Fritz Eggler war hier. Sein besonderer persönlicher Kontakt zur Zaren-familie hatte ihn nicht vor der Verbannung bewahrt, und gemeinsam mit ihm und Baron Karl von Manteuffel-Katzdangen verbrachte Heinrich die meisten Stunden des Tages.
    Es war kein elendes Leben, es war um einiges besser, als er es noch auf der Fahrt hierher hatte erahnen können. Der Ort war hübsch, am Bergufer des Wjatka-Stromes gelegen, doch Heinrich fühlte in den letzten Wochen eine immer stärker werdende Beklemmung seines Gemüts, die ihn seiner inneren Ruhe und jeglicher

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