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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Lebensfreude beraubte. Trotz aller Freiheiten, von denen er noch in der Butyrka nicht einmal zu träumen gewagt hätte, fühlte
er immer schmerzlicher die Fesseln der Unfreiheit, die sich nicht um seinen Körper, aber um seine Seele legten.
    Noch vor wenigen Wochen hatte er gedacht, er hätte sich an den Verlust der Freiheit gewöhnt. Jetzt aber fühlte er von Tag zu Tag das Aufbegehren stärker und unbezwingbarer zurückkehren. Es waren nur Kleinigkeiten: die Fenster, die nicht verhängt werden durften, damit die Soldaten ihnen jederzeit in den Kochtopf und in den Nachttopf sehen konnten, die zensierten Briefe, die Ausgangssperren, die immer wieder völlig unvorhersehbar verhängt wurden, das Verbot, den Park zu betreten - und das Wissen, diesen Ort nicht verlassen zu können.
    Heinrich atmet schwer.
    Er kann nicht länger in diesem Bett liegen bleiben. Alles in ihm strebt nach draußen. Am liebsten würde er sich einfach auf den Weg machen. Gehen und gehen, wohin er möchte, einfach geradeaus gehen, wie er es im Leben immer getan hatte und nie wieder hierher zurückkehren.
    Er erhebt sich, wirft seinen Morgenrock über. Der Boden knarrt unter seinen Füßen. Heinrich tritt ans Fenster, das ihm, von den dichten, phantasievollen Mustern der Eisblumen bedeckt, den Blick nach draußen verwehrt. Er legt seine Hände an die Scheibe, haucht dagegen, hält inne. Sein warmer Atem hat die feste, harte Eisschicht noch nicht besiegt. Erst nach einigen Versuchen ergibt sie sich langsam, taut, gibt eine kleine Stelle frei, durch die er in den Garten spähen kann.
    Der Himmel ist nicht schwarz. Er ist dunkelblau, erstaunlich hell, fast wolkenlos. Sternklar. Als wüßte der Himmel nichts vom Sturm, der auf der Erde tobt. Hohe Bäume wie Schattenrisse gegen den Himmel. Kraftvoll trotzen sie mit ihren jahrzehntealten Stämmen dem Wind, der sie nur biegen, aber nicht knicken kann. Böen tragen den Schnee von Boden und Ästen mit sich, wirbeln ihn durch die Luft, als würden weiße, wehende Fahnen durch die Nacht getragen.
    Geradeaus gehen, das war immer sein Grundsatz gewesen, seine Art, sein Leben zu meistern. Er hatte sich dem Leben und seinen Herausforderungen stets gestellt, hatte den möglichen Konsequenzen ins Gesicht gesehen und war geradewegs darauf zugegangen. Es war ein guter Weg gewesen. Lächelnd denkt er an seine
beiden Ältesten, an den Brunnen im Metropol, den er mit ihnen durchschritten hatte, um ihnen diesen Grundsatz auf eindringliche und humorvolle Weise näherzubringen. Es war gerade etwas mehr als zwei Jahre her.
    Nun saß er hier in Wjatka fest. Schon seit fünf Monaten. Sein Leben stand still. Draußen tobte die Welt, und er war an den Rand gedrängt, zur Handlungsunfähigkeit verdammt. Heinrich kühlt seine Stirn an der kalten Scheibe. Er war immerhin Vater von fünf Söhnen, Jungen, die ihren Weg machen mußten. Es würde schwer genug sein in dieser Welt, die auch Heinrich nicht mehr verstand. Doch während sie heranwuchsen, sollte er hier abwarten, sich mit Briefen begnügen, deren Erhalt vom guten Willen des Zensurbeamten abhing? Das konnte nicht sein! Er mußte seinen Söhnen doch ein Vater sein, ihnen etwas mitgeben auf ihrem schwierigen Weg ins Erwachsenwerden in dieser fast unbewältigbar gewordenen Zeit. Was für einen gebeugten Lebensmut würde er mit diesem Vorbild seinen Söhnen sein, wenn er einfach hier abwartete, bis die Welt ihren Krieg ausgefochten und auch über sein Schicksal zu Gericht gesessen hatte?
    Sollte er es wagen? Er hatte eine Chance. Heute nachmittag hatte sie sich eröffnet. Der Kommandant hatte ihn gebeten, sobald es taute, noch einmal nach Moskau zu reisen, noch einmal Geld zu beschaffen. Die Summe vom letzten Mal war fast aufgebraucht, und man hatte ihn wieder um Hilfe gebeten. Wieder ihn, nicht irgendeinen anderen der wohlhabenden Deutschen hier. Der Kommandant vertraute ihm. Man hatte fast so etwas wie Freundschaft geschlossen. Er hatte Heinrich alle nur möglichen Vergünstigungen zugestanden. Und doch war er der Mann, der ihn in Fesseln hielt, unsichtbar. Es konnte keine Freundschaft geben zwischen Gefangenem und Gefängniswärter. Er würde keine Freundschaft verraten, sondern nur vom Recht, sogar der Pflicht eines jeden Kriegsgefangenen Gebrauch machen, einen Fluchtversuch zu wagen. Und er war Kriegsgefangener, festgehalten wegen seiner Nationalität. Er fühlte sich als Kriegsgefangener, auch wenn er es strenggenommen nicht war. Aber was sind schon Begriffe in einer

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