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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Singen des Windes. Sonst herrscht Stille im Haus und auf der Straße. Keine Stimmen, keine Schritte. Der Morgen konnte noch nicht angebrochen sein. Doch das Osterfest in der kleinen Kirche des Ortes war sicher schon seit Stunden im Gange. Die kleinen Prozessionen mit blumengeschmückten Tellern, auf denen die Gläubigen Brot, Eier, Salz, die traditionelle und auch Heinrich liebgewordene Passchespeise und Kulitsch, den Osterkuchen, zur Kirche trugen, begannen kurz vor Mitternacht. In der Kirche war es warm wie in jeder russischen Kirche, ganz im Gegensatz zu den deutschen, hell erleuchtet von Hunderten Kerzen, die den seltsam anheimelnden, typischen Osterduft verbreiteten. Es wurde nicht gebetet, nur gesungen. Klänge aus Hunderten russischen Kehlen. Bunte Ikonen überall. Sinnlichkeit. Für einen Augenblick denkt Heinrich daran, hinzugehen. Es konnte noch nicht zu spät sein. Die Feier dauerte bis zum Morgen. Vielleicht wäre es das richtige, um sich hier, in diesem Land, doch noch einmal zu Hause zu fühlen. Heinrich war nicht gläubig, doch die russische Osterfeier hatte in seiner exotischen Melancholie etwas unerklärlich Bindendes, war für ihn mit einem Heimatgefühl verbunden … Nicht anders als für Anna und die Söhne, die auch in Schweden Ostern auf die russische Art feiern würden, wie sie schrieben.
    Heinrich tastet nach seiner Uhr auf dem Nachttisch, drückt auf den kleinen Knopf. Er zählt die Schläge der Stunden, das schnellere, helle Bimmeln der Viertelstunden. Viertel vor drei. Tiefste Nacht. Schon lange hat er sich nicht so einsam gefühlt. Über das, was ihn beschäftigt, kann er mit niemandem sprechen. Das muß er mit sich selbst ausmachen. Und er mußte eine Entscheidung treffen. Bald.
    Manchmal war Einsamkeit unentbehrlich, und daß er sie gerade in dieser Osternacht so heftig spürte, war vielleicht nötig, um seinen eigenen Weg zu finden.
    Heinrich legt die Uhr wieder an ihren Platz, tastet nach einem Streichholz, zündet mit klammen Fingern die Petroleumlampe auf seinem Nachttisch an, nimmt das Telegramm wieder zur Hand. Der Kommandant hatte es ihm heute gegeben. Natürlich hatte er es vorher gelesen.

    »Jemand aus Ihrer Familie?« hatte er deshalb schon gefragt, bevor Heinrich überhaupt hatte zu Ende lesen, den Inhalt der Zeilen hatte begreifen können. Sein Freund Roman Antonowitsch Lehmann teilte ihm mit, daß sein Sohn Robert an der russischen Westfront gefallen war. Im Krieg gegen Deutschland. Schon nach so kurzer Zeit! Heinrich hatte sein Entsetzen vor dem Kommandanten kaum verbergen können.
    Er sah den jungen Mann noch vor sich. Sein bedingungsloses Bekenntnis für Rußland, das er bei der Krisensitzung in Petersburg vertreten hatte. »Ich bin ein treuer Diener meiner neuen russischen Heimat, und wenn es darauf ankommt, werde ich das auch unter Beweis stellen. Mit meinem Herzen und, wenn es sein muß, mit meinem deutschen Blut«, hatte er damals voll Enthusiasmus erklärt, überzeugt davon, das Richtige zu tun. Nun hatte er sein Blut für Rußland vergossen. Und hatte es irgend jemandem irgendeinen Nutzen gebracht? Hatte er es in der letzten Sekunde vielleicht noch bereut?
    Heinrich legt das Telegramm beiseite. Gefallen im Krieg gegen sein eigenes erstes Vaterland? Was war das nur für eine Zeit? Wie weit war man heute von einem im Frieden vereinten Europa entfernt, von dem schon Karl der Große geträumt hatte? Wahrscheinlich wird es das niemals geben können.
    Heinrich dreht die Flamme der Petroleumlampe behutsam zurück. Seine Gedanken kommen nicht zur Ruhe. Was hatte das alles nur für einen Sinn? Dieser Krieg, der schon jetzt, soweit man hörte, an Grausamkeit alles bisher Bekannte übertraf. Noch nie war ein Krieg so allumfassend gewesen wie dieser. Die gesamte Wirtschaft der beteiligten Länder war ganz und gar auf ihn ausgerichtet, die Produktion der Staaten konzentrierte sich auf kriegswichtige Güter. Was für ein Irrsinn! Noch nie hatte ein Krieg auch die zivile Bevölkerung so sehr betroffen wie dieser. Das gesamte soziale Leben war hinter diesen Krieg zurückgetreten und hatte ihm zu dienen. Und ein Ende war nicht in Sicht.
    Wenn dieser Krieg irgendwann einmal vorbei war, wenn die letzten Schlachten geschlagen, die Toten begraben waren, dann würde in der Welt, die Heinrich kannte, kein Stein mehr auf dem anderen stehen. Es würde keinen Sieger geben, nur Verlierer, ein bitteres Erwachen. Vielleicht war es auch das, was die Menschheit
brauchte, diese schmerzliche

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