Der Mann mit dem Fagott
Reformen möchte?«
Heinrich nickt zögernd. Soll er Kropotkin erklären, daß er das für eine Propaganda des Kaisers hält, um auch die starken sozialistischen Kräfte des Landes hinter sich und diesen Krieg zu stellen? Er entscheidet sich für einen Mittelweg. »Ich weiß es nicht so genau. Er sagt es jedenfalls, und viele der deutschen Soldaten sind sicher mit der Vorstellung in diesen Krieg gezogen, gegen ein zutiefst menschenverachtendes System zu kämpfen. Aber was Wilhelm wirklich denkt? Wer kann das schon so genau wissen.«
Kropotkin nickt.
»Hier in Rußland müßten Sie eigentlich auf Lenins Seite sein«, erklärt er plötzlich scheinbar zusammenhanglos.
Heinrich sieht ihn etwas verständnislos an.
»Na, das ist doch ganz klar: Lenin und die Bolschewiki möchten diesen Krieg beenden. Sie wollen keinen vom Zaren angezettelten Krieg mit Deutschland, sie wollen Frieden und Ruhe, um die Verhältnisse hier im Lande zu ordnen. Wer für den Zaren ist, ist in Zeiten wie diesen damit gleichzeitig auch für den Krieg. Wer für Lenin und die Bolschewiki ist, der ist für den Frieden …«
Heinrich nickt. Eigentlich hat Kropotkin nicht so unrecht. Es ist der Krieg der Kaiser, denen die Menschen zur Zeit auf allen Seiten zum Opfer fallen. Und weniger der Krieg der Völker, auch wenn durch diesen Krieg der Haß der Völker aufeinander sicher befördert werden wird …«
Kropotkin mustert Heinrich lange, dann meint er plötzlich: »Wissen Sie was? Ich werde Ihnen helfen!«
Heinrich sieht ihn ungläubig an. »Wie meinen Sie das?«
»Na, ich werde Ihnen helfen zu fliehen. Wobei denn sonst?«
Heinrich entschließt sich, es als einen Scherz aufzunehmen. Er versucht ein Lachen, das ihm in dieser Situation nicht so recht gelingen will. Doch Kropotkin erklärt noch einmal mit ruhiger Stimme: »Nein, es ist mein Ernst. Sie brauchen Hilfe, um von hier wegzukommen, und wenn ich Ihnen helfe, schade ich dem Zaren. Das ist eine Genugtuung für mich.«
Heinrich runzelt nachdenklich die Stirn. »Und woher weiß ich, daß Sie mich nicht nur dazu bringen wollen, über Fluchtpläne zu sprechen, um mich dann wieder zu verraten?«
Kropotkin holt einen Beutel unter seinem Bett hervor und kramt darin herum. »Sie müssen nichts sagen. Hören Sie mir einfach nur zu. Angenommen, Sie wollten weg, dann brauchen Sie zuerst einmal eine Verkleidung. So, wie Sie jetzt aussehen, würde man sofort auf Sie aufmerksam werden. Da kommen Sie nicht weit. Die Bahnhöfe werden scharf bewacht, und einen anderen Fluchtweg gibt es nicht. Ich hätte hier Sachen für Sie. Sie haben meinem Bruder gehört. Arbeitersachen. Sie müßten Ihnen passen. Auch Arbeiterschuhe. Mit den Schuhen, die Sie im Moment tragen, fallen Sie sofort auf. Damit brauchen Sie sich gar nicht erst zu verkleiden. Schuhe sind überhaupt das wichtigste …«
Heinrich staunt. So weit hatte er noch gar nicht gedacht.
»Nun. Angenommen, Sie wollten fliehen, dann kann ich Ihnen diese Sachen hier geben. Und ich kann Ihnen auch einen Bart besorgen. Wir haben da unsere Quellen. Er würde wie echt aussehen. Das wäre schon einmal wichtig für den Anfang. Und ich habe da noch so eine Idee, aber es ist besser, wenn Sie davon vorerst nichts wissen.«
Heinrich wiegt nachdenklich den Kopf. »Aber wie kann ich wissen, daß Sie es ehrlich meinen?«
Kropotkin zuckt mit den Schultern. »Das können Sie nicht wissen. Sie müssen mir vertrauen oder es lassen. Es ist Ihre Entscheidung.« Er hält ihm den Beutel mit den Kleidungsstücken hin. »Hier. Nehmen Sie das schon einmal an sich. Sie können sich das alles ja noch in Ruhe überlegen. Aber zögern Sie nicht zu lange. In diesem Land sind Sie als Deutscher nicht mehr sicher. Das Päckchen mit dem Bart werde ich Ihnen so schnell wie möglich zukommen lassen. Da ist ein kleiner Zeitungsstand vor dem Petersburger Bahnhof. Er gehört einem alten Deutschen. Er ist einer von uns. Dort können Sie morgen früh ein kleines Päckchen abholen. Gehen Sie hin oder lassen Sie es. Der Rest wird sich finden.«
Heinrich nickt unschlüssig, nimmt dann den Beutel. Ein Händedruck, und Heinrich verläßt die Bank durch einen Hinterausgang. Er muß nachdenken und möchte jetzt niemandem begegnen.
Ein Abschiedsbrief
31. Mai 1915. Wie schreibt man einen Brief, der vielleicht ein Abschiedsbrief werden könnte, das letzte, was der Familie von ihm bleibt - wenn es schiefgeht? Wie bringt man das zu Papier, was von einem selbst Bestand haben soll? Die Beklemmung
Weitere Kostenlose Bücher