Der Mann mit dem Fagott
wenig abgeschabt, die Hose geflickt, aber zweifellos derselbe. Heinrich läuft auf ihn zu. Der Mann erschrickt, setzt das Fagott ab, blickt sich gehetzt um, offenbar auf der Suche nach einem Fluchtweg.
Heinrich entschuldigt sich eilig: »Nein, nein, keine Angst. Ich bin nicht von der Polizei.«
Der Mann mit dem Fagott - die Begegnung
»Bremen - das ist noch gar nicht so lange her, aber mir ist, als wäre es in einem anderen Leben gewesen …«
Heinrich Bockelmann versteht genau, was der »Mann mit dem Fagott« meint.
Man hat sich im hektischen Gewühl des Bahnhofsvorplatzes auf die Treppe gesetzt.
»In Bremen, da war ich Lehrer für Musik und Kunst.« Er hält inne. »Bockelmann? Der Name kommt mir bekannt vor. Ich habe einen Bockelmann unterrichtet. Waren Sie das? Wilhelm?«
Heinrich schüttelt den Kopf. »Nein, das war mein Bruder.«
Der Mann mit dem Fagott lächelt. »Es war eine schöne Zeit. Deutschland … Ich wollte die Heimat meiner Mutter kennenlernen. Mein Vater hatte hier in Moskau einen kleinen Antiquitätenladen …«
Heinrich unterbricht ihn, von einem plötzlichen, fast unglaublichen Gedanken beherrscht, der ein seit mehr als zehn Jahren ungeklärtes Geheimnis endlich lüftet. »Etwa an der Twerskaja?«
Der Mann mit dem Fagott sieht ihn überrascht an. »Ja! Woher wissen Sie …«
Heinrich erzählt ihm die Geschichte von der Figur, die er, kaum in Moskau angekommen, in jenem Laden entdeckt und schließlich auf solch geheimnisvolle Weise geschenkt bekommen hat.
»Ja, die Figur.« Der Blick des Mannes richtet sich in die Ferne, die bunte Vergangenheit seiner Kindheit. »Ich habe sie mein Leben lang geliebt. Schon als Kind. Sie hat mich fasziniert. Ich habe sogar ihretwegen angefangen, dieses wunderbare Instrument zu lernen. Und zu besonderen Anlässen habe ich mich gekleidet wie sie. Das hat mir Glück gebracht. Bis heute …« Der Mann sieht mit resigniertem Blick an sich herunter, das zerschlissene Kostüm, der Zylinder, an dem der Zahn der Zeit sichtbar genagt hat. »Jetzt hilft es mir beim Betteln.«
Heinrich nickt einfühlsam. »Diese Zeit macht aus manchem einen Bettler.«
»In Deutschland konnte ich nicht bleiben«, erklärt der Mann mit dem Fagott. »Der Krieg hat es unmöglich gemacht. Ich mußte fliehen. Und hier will man mich auch nicht haben. Ich finde keine Anstellung. Man vertraut mir nicht, weil ich so lange in Deutschland war. Man hält mich für einen Spion. Oder für sonst einen schlimmen Gesellen. Es grenzt an ein Wunder, daß sie mich noch nicht verhaftet haben.« Er schüttelt den Kopf. »Das ist also aus mir geworden. Ein Bettler!«
Heinrich kann den Mann mit dem Fagott nur allzugut verstehen. »Was wollen Sie denn jetzt machen?«
Der Mann schüttelt ratlos den Kopf. »Vorläufig spiele ich hier für ein paar Münzen am Tag. Der Antiquitätenladen meines Vaters wurde geplündert. Die Angestellten sind verschwunden. Ich schlafe im Laden. So habe ich wenigstens ein Dach über dem Kopf. Momentan kann ich nichts anderes tun als darauf zu warten, daß die Zeiten sich wieder ändern.«
Heinrich nickt gedankenvoll. »Ihr Spiel hat, auch wenn Ihnen das seltsam erscheinen mag, mein Leben bestimmt, und es hat mir Glück gebracht. Sie waren wie ein Wink des Schicksals für mich, damals, in Bremen. Und jetzt …« Er hält inne. »Daß wir uns unter diesen Umständen wiedersehen, daß ich Sie endlich finde, hier, in Moskau, in einer Zeit, in der das Leben uns übel mitgespielt hat.
Irgendwie scheinen unsere Wege auf geheimnisvolle Weise verschlungen zu sein …«
Der Mann mit dem Fagott nickt. »Aber ob ich Ihnen jetzt wieder Glück bringen kann? Ob ich noch irgend jemandem Glück bringen kann? Am wenigsten wohl mir selbst.«
Er zuckt mit den Schultern.
Heinrich lächelt.
»Daß wir uns jetzt hier begegnen, ist bestimmt so etwas wie ein gutes Omen. Für beide von uns«, erklärt er geheimnisvoll. Dann erhebt er sich. Die Zeit drängt. Wenn er den Abendzug nehmen möchte, von dem Kropotkin schrieb, muß er bald mit den Vorbereitungen beginnen. Er reicht dem Mann mit dem Fagott die Hand. »Sie hören von mir. Der Antiquitätenladen in der Twerskaja ist mir vertraut.« Leise fügt er ein »Alles Gute!« hinzu, vielleicht mehr, um sich selbst Mut zu machen.
Wieder in seinem Zimmer steht Heinrichs Entschluß fest. Er wird Kropotkin und seinem eigenen Gefühl vertrauen.
Von draußen erklingt leise der wehmütige, tiefe Klang des Fagotts. Er begleitet ihn, während er den Brief
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