Der Mann mit dem Fagott
diesen in die edle Junker-Bank paßt. Und um so seltsamer der »Hofstaat«, den dieser »Kunde« um sich versammelt: eine Reihe von Männern, die ganz offensichtlich so etwas wie Leibwächter für diesen eigenartigen Herrn sind. Heinrich ist merkwürdig berührt von dem stechenden Blick des Mannes, der mit seiner Gefolgschaft sicheren Schrittes durch die Halle einem Ziel zu steuert und sich hier offenbar auskennt.
»Ja, es ist Rasputin, der wahre Herrscher im Kreml«, flüstert ihm ein ehemaliger Angestellter zu, der seinem Blick folgt. »Die neue Führung bringt neue Kundschaft.« Heinrich wendet sich ab, möchte von diesem mächtigen und sicher auch nicht ungefährlichen Fremden lieber nicht bemerkt werden.
Heinrich möchte eigentlich schon wieder gehen, als er etwas abseits, sichtlich bemüht nicht aufzufallen, plötzlich Wassilij Sergejewitsch Kropotkin entdeckt, der gerade aus einem der vielen Zimmer gekommen ist, stehenbleibt und Heinrich undurchdringlich anstarrt, sich dann abrupt abwendet, offenbar wieder hinter der Tür verschwinden möchte, durch die er gerade gekommen ist. Jetzt muß Heinrich es wissen. Er ruft laut Kropotkins Namen. Der »schwarze Mann« wendet sich um, Abwehr in seinem Blick. Heinrich geht auf ihn zu. »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen? Unter vier Augen?«
Unruhig und mit der Aggressivität des Unterlegenen sieht der »schwarze Mann« ihn an. Einige Sekunden vergehen, dann nickt er. »Sie wollen mich sprechen? Gut, dann sprechen wir!«
Heinrich nickt. »Wo sind wir ungestört?«
Der schwarze Mann zögert. »Gehen wir in meine kleine Kammer hier im Haus. Da wohne ich nämlich immer noch.«
Es klingt ein wenig vorwurfsvoll, als ob Heinrich dafür die Verantwortung trüge, doch Heinrich nimmt den Vorschlag an.
Kropotkin geht voraus in den hinteren Trakt des Gebäudes. Er schließt eine unauffällige Tür auf, lädt Heinrich mit einer knappen Geste ein, einzutreten. Der Raum ist winzig, ein schmales Bett, ein kleiner Tisch, ein Stuhl. Ein winziges Fenster oben an der Wand.
Fast wie in der Butyrka, denkt Heinrich.
Abgestandene Luft. An den Wänden rote Fahnen. Photographien von Karl Marx, Lenin und einigen anderen kommunistischen Idolen. Heinrich sieht sich interessiert und verwundert um.
»Deshalb?« fragt er nur und weist mit dem Kopf auf die Bilder, die roten Fahnen.
Der schwarze Mann gibt sich verständnislos: »Wie meinen Sie das: deshalb?«
Heinrich lächelt sarkastisch. »Sie wissen doch genau, was ich meine! Lassen Sie uns offen miteinander reden, von Mann zu Mann …« Er hält kurz inne, gibt dem schwarzen Mann aber keine Gelegenheit zu antworten und fährt fort: »Ich möchte nur wissen: Warum? Warum haben Sie mich damals am Bahnhof verraten und der russischen Polizei ausgeliefert? Weil Sie zu den Roten gehören? Oder haben Sie mich einfach nur gehaßt, habe ich Ihnen irgendetwas getan?«
Der schwarze Mann lacht verächtlich. »Sie sind natürlich wieder einmal nur der Gute, der Verständnisvolle. Wenn Sie wüßten, wie mir diese herablassende Art zuwider ist. Sie wollen die Wahrheit wissen?«
Der schwarze Mann nimmt eine vergilbte Photographie von der Wand, die einige Bauern vor einem winzigen, verfallenen Haus zeigt. »Wissen Sie, wer das ist? Das ist …« Er korrigiert sich. »Das war meine Familie.«
Heinrich sieht Kropotkin verständnislos an.
»Ihr habt doch keine Ahnung! Ihr habt eure Feste gefeiert und euch der Wohltätigkeit gerühmt, in der ihr euch gegenseitig überboten habt. Aber meine Familie hat um ihr Überleben gekämpft. Niemand von uns hat lesen oder schreiben gelernt oder die Möglichkeit bekommen, etwas Anständiges zu werden. Meine Eltern und meine Geschwister haben in Fabriken geschuftet. Für einen Hungerlohn. Und sie haben um das kleine Stückchen Land gekämpft, das nicht einmal einen von uns sattmachen konnte. Und vor zehn Jahren und vier Monaten haben mein Vater und mein ältester Bruder die weite, beschwerliche Reise nach Sankt Petersburg angetreten, um den Zaren untertänigst um Hilfe zu bitten. Zusammen mit vielen Tausend anderen Arbeitern und Bauern. Doch was ist passiert? Der ›Blutsonntag‹ ist daraus geworden! Man hat sie erschossen. Einfach so. Die Polizei des Zaren hat einfach in die
Menge geschossen. Auf unbewaffnete Arbeiter! Mein Vater und mein Bruder waren nicht sofort tot. Nein, so einfach war es nicht. Nicht einmal genau gezielt haben diese Schweine! Sie haben noch einige Minuten gelebt, haben im Schnee gelegen
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