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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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und geschrien, bis sie dann auch dafür keine Kraft mehr hatten. Das hat mir ein überlebender Freund erzählt. Man hat die Leichen durch die Zarenstadt getragen. Eine schauerliche Prozession war das. Stunden hat sie gedauert. Ich habe mir damals geschworen, sie zu rächen, meine Familie und all die anderen. Ich habe mir geschworen, dafür zu kämpfen, daß das Land hier ein anderes wird. Ich wollte nicht, daß ihr Tod sinnlos war! Damals habe ich mich den Roten angeschlossen, und man hat mir als erstes lesen und schreiben beigebracht. Wußten Sie das? Daß sie uns in den Teestuben lesen und schreiben beibringen, damit wir die Schriften von Marx und Engels lesen können? Nicht wie ihr, die ihr uns dumm halten wolltet, damit wir schön auf unserem Platz bleiben!«
    Heinrich Bockelmann schüttelt betroffen den Kopf. »Nein, das wußte ich nicht, und ich habe großes Mitgefühl mit Ihnen und Ihrem Schicksal. Ich kann Ihren Haß sogar verstehen. Aber was hat das alles mit mir zu tun? Haben Sie mich gehaßt? Oder haben Sie mich stellvertretend für alle meines Standes gehaßt?«
    Kropotkin nimmt einen Schluck Wodka aus einer Flasche, die er unter seinem Bett hervorgeholt hat, wischt den Flaschenhals mit dem Ärmel seines kragenlosen Hemdes ab, hält Heinrich die Flasche hin, der sie nach kurzem Zögern nimmt und aus ihr trinkt.
    »Nein, es ging nicht um Sie«, erklärt Kropotkin dann nachdenklicher und streicht sich über seinen vollen, schwarzen Bart, der sein großes, schwarzes Muttermal auf der linken Wange kaum verbergen kann. »Sie können nichts dafür, daß Sie auf der privilegierten Seite der Menschheit geboren wurden. Aber das spricht Sie nicht frei von Verantwortung. Auch Sie haben davon profitiert, daß man uns klein und dumm hält. Aber nein, es ging nicht gegen Sie persönlich. Es begann damit, daß man mich zusammen mit einigen politischen Freunden dabei erwischt hat, wie wir bei einer Demonstration ein russisches Geschäft geplündert haben. Der Besitzer war ein Halsabschneider, aber das hat die Polizei nicht interessiert. Man hat uns gesagt, daß die Deutschen unsere Feinde seien, daß die reichen Deutschen daran schuld seien, daß es unsereins so
dreckig geht und daß das Land im Elend ist. Man hat gesagt, wir hätten die gleichen Interessen: wir Roten und die Polizei.«
    Kropotkins Augen werden zu schmalen Schlitzen. »Pah! Wie konnte ich nur so dumm sein. Die Polizei des Zaren! Die Mörder meiner Familie! Man wußte, daß ich für Sie in der Bank arbeite. Man wollte Sie schon lange festsetzen. Warum, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich waren Sie irgend jemandem ein Dorn im Auge. Oder vielleicht auch einfach nur, weil Sie Deutscher sind. Ich weiß es nicht …« Er schüttelt den Kopf. »Ist ja auch egal … Jedenfalls hat man mir nahegelegt, daß man den Einbruch und die Mitgliedschaft in einer staatsfeindlichen Organisation erst einmal vergessen würde, wenn ich ihnen von Ihren rußlandfeindlichen Äußerungen erzähle und Sie ihnen ausliefere.«
    Heinrich protestiert: »Aber ich habe doch nie gegen dieses Land …«
    Kropotkin unterbricht ihn ungeduldig: »Natürlich nicht! Aber das war denen doch egal! Sie brauchten nur etwas, um Sie erst einmal festzusetzen, und da kam ich ihnen gerade recht.« Er geht nervös auf und ab, zwei Schritte hin, zwei Schritte her, dann setzt er sich wieder auf sein Bett.
    Heinrich schüttelt schweigend den Kopf. Noch nicht einmal 24 Stunden war er in der Stadt, doch die Wogen der Ereignisse schlugen bereits über ihm zusammen.
    »Sie sind ja ganz blaß geworden.« Kropotkin hält ihm noch einmal die Wodkaflasche hin. Nach einer Pause fragt er: »Und jetzt? Werden Sie fliehen?«
    Heinrich verschluckte sich bei dieser offenen Frage fast am Wodka. »Wie kommen Sie darauf?«
    »Sie wären dumm, wenn Sie es nicht täten! Sie haben ja sicher schon gehört, was hier los ist, was sie mit euch Deutschen machen. Wenn Rußland diesen Krieg gewinnt, werden Sie das nicht überleben. Dann wird man Sie hinterher der Spionage anklagen und Sie erschießen. Und wenn Deutschland gewinnt. Dann wird man Sie vorher auch umbringen, alle, die man noch in die Finger bekommt«. Er hält kurz inne. »Wenn ich es mir recht überlege, eigentlich ist dieser Staat jetzt irgendwie unser gemeinsamer Feind. Ihrer und meiner.« Kropotkin hält nachdenklich inne. »Ist es eigentlich wahr, daß Ihr Kaiser Wilhelm auch gegen Rußland kämpft,
weil er das System hier für menschenverachtend hält und soziale

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