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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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des Gouvernements Wjatka. Vielleicht verstehen Sie, daß ich mir Gedanken um meine Zukunft mache. Ich bin vor zwei Tagen 45 Jahre alt geworden. Eigentlich ist das, soviel ich weiß, der Zeitpunkt, an dem Verbannten die Freiheit wiedergeschenkt wird. Können Sie mir sagen, wie es um meinen Fall steht?«
    Dzhunkowskij seufzt. »Moment bitte.« Knacken in der Leitung. Heinrich fürchtet, er könnte aufgelegt haben, doch dann, nach einer kleinen Ewigkeit, wieder die etwas gereizte Stimme: »Ihre Akte liegt mir vor. Eigentlich sollte in Ihrem Fall schon alles für einen Gefangenenaustausch vorbereitet werden, aber es wurde ein Antrag gestellt, Ihre Entlassung bis auf weiteres auszusetzen. Immerhin haben Sie einen Fluchtversuch unternommen, und, was schwerer wiegt, es liegt der Vorwurf der Spionage gegen Sie vor. Das wird in Tagen wie diesen nicht auf die leichte Schulter genommen. Jedenfalls: Ihre Entlassung wurde ausgesetzt. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«
    »Meinen Sie, Sie können da vielleicht irgendetwas für mich tun? Immerhin bin ich unschuldig.«
    »Über Schuld oder Unschuld habe nicht ich zu entscheiden. Hier ist alles im Aufruhr, ich habe viel zu tun, und die Verbindung ist außerdem sehr schlecht. Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Dann hängt er auf.
    Ein Augenblick beklemmender Resignation, dann nimmt Heinrich den Hörer wieder auf, läßt sich mit der Direktion der Junker-Bank verbinden. Inzwischen wird sie tatsächlich von seinem Erzrivalen Mitka Rubinstejn geleitet. Mit dem Ärger darüber darf Heinrich jetzt keine Energie vergeuden. Nun heißt es handeln.
    Man ist etwas erstaunt, seine Stimme zu hören, doch sofort gibt man ihm den gewünschten Termin bei einem seiner ehemaligen Angestellten. Zum Glück scheint der neue Bankchef im Moment nicht in Moskau zu sein. So wird Heinrich wenigstens diese unangenehme Begegnung erspart bleiben. In einer halben Stunde? Natürlich.
    Heinrich geht ein paar Schritte Richtung Bahnhof, nimmt eine der billigen »Wanjka«-Kutschen, die sich in gefährlich hohem
Tempo über die holprigen Straßen in Bewegung setzt. Die Stadt erscheint ihm lauter denn je, fast noch hektischer. Viele geschlossene Fensterläden, dunkle, aufgelassene Gaststätten, verwaiste Geschäfte, eingeschlagene Scheiben. Übler Geruch. Müll, seit Wochen nicht von den Straßen geräumt, geplatzte Wasser- und Kanalrohre, die niemand repariert. Bettler überall auf den Straßen. Die ersten Kriegsversehrten sind zu sehen. Die Zeitungen voller Schlachtrufe. Hetzkampagnen gegen die deutschen Teufel, die dem Land angeblich nur Schaden und sogar die Cholera gebracht haben. An allem Schlechten sind die Deutschen schuld. Heinrich möchte es gar nicht lesen und hören.
    Sogar die ehemaligen Prachtstraßen haben ihren Charme verloren. Armseligkeit einer barbarischen Zeit.
    Die Bank wenigstens scheint nach außen hin unversehrt zu sein. Keine Zeit für Wehmut, als Heinrich sie betritt. Man empfängt ihn, als wäre er immer noch der Chef des Hauses, kehre nur von einer längeren Dienstreise zurück. Ein erholsames Gefühl, doch Heinrich weiß, er muß wachsam bleiben. Ein merkwürdiges Gefühl, in seinem ehemaligen, fast unveränderten Büro zu sitzen, auf der anderen Seite des Schreibtisches. Sogar sein alter Globus steht noch hier. Ein kurzer, schmerzlicher Gedanke an Erwin, dann zwingt er sich, die neue Situation als selbstverständlich hinzunehmen.
    Schnell wird das Finanzielle erledigt. Heinrich wird 5000 Rubel von seinen persönlichen Wertpapieren lockermachen und sie nach Wjatka an den Kommandanten überweisen. Daß er eine solche Summe nicht in bar mitnehmen möchte, leuchtet jedem ein. Im stillen wundert er sich, daß die deutschen Konten und Wertpapiere noch nicht enteignet worden sind.
    Die Transaktion wird vordatiert. Sie soll erst in zehn Tagen ausgeführt werden. So kann Heinrich sie noch stoppen, wenn das Blatt sich wendet, er seine Pläne überraschend ändern muß.
    Einige Mitarbeiter von früher haben von Heinrichs Besuch gehört, treten an ihn heran, schütteln ihm die Hand, fragen nach seinem Befinden, nach der Familie in Schweden.
    Heinrich schaut durch die große Glasscheibe in die wunderschöne, mintgrüne Schalterhalle, in der die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Er sieht Kunden kommen, andere gehen und plötzlich
einen Mann in seltsam verschlissenen Kleidern, mit langem, etwas ungepflegtem Bart und ungeordneten Haaren. Eine Erscheinung, wie sie eigentlich nicht einmal in Zeiten wie

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