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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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an Anna und die Zeilen an seine Söhne vollendet. Er gibt ihm Hoffnung, während er sich mit ungeübten Fingern den Bart anklebt, seine nötigsten Habseligkeiten in den groben Leinensack packt, den Kropotkin ihm gegeben hat, und sich in einen Arbeiter, in Kropotkins Bruder verwandelt. Und es macht ihm Mut, während er die Briefe an seine Familie zusammen mit einem Geldschein in einen größeren Umschlag steckt, den Namen des Nachtportiers daraufschreibt und ihn bittet, seine Zeilen in zwei Tagen auf den Weg zu bringen. Schließlich ist alles erledigt. Das Fagott schweigt. Heinrich schließt das Fenster und macht sich auf den Weg.

In fremden Schuhen
    Die engen, harten Schuhe mit den groben, unflexiblen Sohlen nehmen Heinrichs Schritten sofort die sonst selbst in Zeiten wie diesen noch gewohnte Souveränität. Sie verleihen ihm den groben Gang eines Arbeiters, ohne daß er sich darum bemühen müßte, um seine Verkleidung glaubwürdig erscheinen zu lassen. Die rauhe Kleidung und der fremde Bart tun ein übriges.
    Heinrich ist froh, in diesem Aufzug niemandem zu begegnen, der ihn kennt, die Reception unbesetzt vorgefunden zu haben. Einsam macht er sich in der einsetzenden Dämmerung auf den Weg. Ein nobler Herr zischt ihm ein »aus dem Weg, verlottertes Pack« hinterher. Heinrich zuckt zusammen und atmet doch erleichtert auf. Die Verkleidung scheint geglückt.
    Am Bahnhof der typische Trubel. Heinrich beobachtet das Geschehen aus den Augenwinkeln, versucht einzuschätzen, von wem Gefahr drohen könnte.
    Plötzlich Blickkontakt mit Augen, die ihm vertraut sind.
    »Hast du Feuer?« Kropotkins Frage laut und unverdächtig. Heinrich sucht die Taschen nach seiner Streichholzschachtel ab, zündet eines an und reicht es Kropotkin. »Schalter drei«, flüstert dieser ihm zwischen zwei Zügen zu. Heinrich geht so unbeteiligt wie möglich weiter.
    Am Schalter eine kurze Schlange. Niemand nimmt Notiz von ihm.
    »St. Petersburg. Einfach.« Heinrich vermeidet zu viele Worte. Seine Sprache würde ihn entlarven, der deutsche Akzent, der Tonfall der vornehmen Gesellschaft. Die Ausdrucksweise und Sprachfärbung der einfachen Leute beherrscht er nicht. Der alte Mann am Schalter schiebt ihm die Karte zu. Dritter Klasse, ohne daß Heinrich darum hätte bitten müssen.
    Am Bahnsteig wieder Kropotkin, Zeitung lesend an einen Mast gelehnt. Noch kann Heinrich umkehren. Noch hat er sich nicht schuldig gemacht. Erst wenn er einsteigt, die Karte nach St. Petersburg in der Tasche, würde ein neuerlicher Fluchtversuch beweisbar sein. Heinrich zögert. Kropotkin weist ihm mit einer kleinen
Geste mit dem Kopf den vorletzten Wagen zu. Heinrich sieht sich um. Er atmet tief durch, dann ist er mit zwei Schritten im Zug, sucht sich einen Platz in einer möglichst unauffälligen Ecke. Ein verstohlener Blick aus dem Fenster. Kropotkin im Gespräch mit einem großen, breitschultrigen, etwas düster wirkenden Mann. Heinrichs Atem stockt. Kropotkin im gestenreichen Dialog. Der Mann lacht. Kropotkins Blick trifft Heinrichs Augen. Der Zug setzt sich in Bewegung.
    Laut und alles beherrschend die Gespräche der Arbeiter im Abteil, ihr Gelächter, ihre groben Witze. Über die Reichen und über die Juden und über die Deutschen. Billiger Qualm. Nebel, in dem Heinrich sich geschützt fühlt. Sein Bart juckt. Immer wieder die Angst, daß er sich lösen könnte, daß es schon geschehen sei, ohne daß es ihm auffiel. Vor den Fenstern Dunkelheit, die die Scheiben in Spiegel verwandelt. Heinrich betrachtet sein Gesicht wie das eines Fremden. Er sieht alt aus, sehr alt, stellt er fest. Der Bart sitzt noch. Der Mann gegenüber schläft mit offenem, fast zahnlosem Mund. Er wüßte gern, wie spät es ist. Die Uhr hat er lose in die weite, unförmige Hose gesteckt. Er zieht sie lieber nicht hervor.
    »Die Fahrkarten bitte!« Der Schaffner steht direkt vor Heinrich, sieht ihn auffordernd an. Schweigend reicht er dem Schaffner seine Fahrkarte. Dieser sieht Heinrich prüfend und mit offenkundiger Irritation an. Dann reicht er ihm die Karte zurück. »Gute Fahrt«.
    Heinrich nickt, lehnt sich zurück. Irgendwo hat er diesen Schaffner schon gesehen. Ein vertrautes Gesicht. Kein gutes Zeichen in einer Stunde wie dieser.
    Okulowka. Der Zug hält. Heinrich will gerade das Fenster öffnen, als eine Stimme hinter ihm ertönt: »Ihre Fahrkarte bitte!« Schon zum zweiten Mal. Heinrich wendet sich erschreckt um.
    Der Schaffner sieht ihm fest in die Augen. Nervös sucht Heinrich in den

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