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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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dieser Vorstellung lähmt seine Gedanken. Heinrich starrt auf sein seit Stunden leeres Blatt Papier. Zu vieles wäre zu sagen.
    Neben ihm die kleine Schachtel mit dem Bart und dem Leim, die er vor ein paar Stunden abgeholt hat. Der Zeitungsverkäufer war freundlich gewesen, dankbar für die paar Rubel, die Heinrich ihm im Tausch gegen das Päckchen in die Hand gedrückt hatte. Lächelnde, warmherzige Augen. Ein seltener Anblick in diesen Tagen. Die Zeitung, die er zur Tarnung gekauft hatte, hatte er gleich in den nächsten Papierkorb geworfen. Schreiende Haßtiraden gegen ihn und seinesgleichen.
    Erst in seinem Zimmer hatte Heinrich das Päckchen geöffnet, hatte den Bart darin gefunden, der seiner eigenen Haarfarbe tatsächlich sehr ähnlich war. Und einen Zettel: »Petersburger Bahnhof, Montag, 21 Uhr, dritte Klasse!« Eine ungeübte, fast kindlichunschuldige Handschrift, die jeden Gedanken an Verrat geradezu grotesk erscheinen läßt. Doch es ist nicht ausgeschlossen. Soll er die Anweisung befolgen? Oder bewußt einen anderen Zug nehmen?
    Heinrich versucht zu ermessen, was in Kropotkins Kopf vorgehen mag. Hat er gestern sein wahres Gesicht gezeigt? Oder war das Gesicht damals, auf dem Bahnsteig, als er ihn verriet, sein wahres gewesen? Die letzten Monate haben Heinrichs Glauben an die eigene Menschenkenntnis erschüttert. Und ausgerechnet jetzt muß er mit seinem eigenen Leben für Vertrauen oder Mißtrauen einstehen. Ein hoher Preis. Und niemand, mit dem er sich beraten kann.
    Meine liebe Anna, lieber Erwin, Rudi, Werner, Gert und Johnny. Wenn alles gutgeht, werde ich schon wieder bei Euch sein, wenn diese Zeilen Euch erreichen. Wenn nicht, dann muß ich Euch aus tiefstem
Herzen um Euer Verständnis und Eure Vergebung bitten. Es ist mir einfach nicht länger möglich, in Unfreiheit und fern von Euch zu leben - ohne Aussicht auf Entlassung. Irgendwann. Man hat einen Spionagevorwurf gegen mich konstruiert, eine Schlinge um meinen Hals, die sich irgendwann zugezogen hätte. Ich habe mich entschieden, zu fliehen. Wenn dieses Vorhaben gelingt, werde ich Euch in ein paar Tagen endlich wieder in die Arme schließen, und dieser Alptraum hat ein Ende. Wenn nicht, dann hat das Schicksal es mir nicht bestimmt, noch ein zweites Mal in meinem Leben glücklich zu werden. Ich hoffe, daß es Dir, liebe Anna, irgendwann möglich sein wird, mein restliches Vermögen aus diesem Land und in Deine Hände zu bekommen und alles zu unternehmen, um unseren Söhnen eine gute Zukunft zu ermöglichen. Ansonsten habe ich nur wenige Habseligkeiten bei mir. Bis auf die Uhr. Falls man Dir die Sachen übergibt, sorge bitte dafür, daß Rudi sie gemeinsam mit dem Brief, den ich diesem Schreiben beifüge, zu seinem 21. Geburtstag bekommt. Ich habe es ihm versprochen …
    Heinrich hält abrupt und fast ungläubig inne. Was er zu hören glaubt, scheint ihm kaum Realität sein zu können. Bestimmt ist es die Nervosität, die seine Sinne verwirrt. Er öffnet sein Fenster. Der Klang wird lauter. Nein, er hat sich nicht getäuscht, auch wenn er, was er hört, kaum begreifen kann.
    In die lebendige Geräuschkulisse der Bahnhöfe, auf die er von seinem Zimmer aus blickt, in das Stimmengewirr von Verkaufsständen, Reisenden, Kutschen, Zügen, Straßenmusikanten mischt sich ganz leise, aber deutlich hörbar, ein ganz anderer Klang, tiefer als alle anderen Töne, rauher als eine Oboe aber weicher als eine Posaune, erdverbundener als eine Flöte und erhabener als eine Klarinette. Eine Melodie, die allen anderen Klängen der Stadt zugrunde zu liegen scheint - der unverkennbare Klang eines Fagotts. Heinrich kann nicht sofort erkennen, woher es kommt, beugt sich weit aus dem Fenster und kann kaum begreifen, was er da sieht. Da unten, auf dem Platz vor den beiden nebeneinanderliegenden Bahnhöfen steht der Mann mit dem Fagott. Ein zerknitterter Zylinder, ein Gehrock, einen braunen, schäbigen Koffer mit Messingbeschlägen vor sich auf dem Boden.
    Heinrich wirft in seiner Fassungslosigkeit alle Vorsicht über
Bord, rennt die Treppe hinab, vorbei am Portier, der ihm noch ein »Ist alles in Ordnung? Ist irgendetwas passiert?« hinterherruft und ein knappes »Nein, nein, alles bestens« als Antwort bekommt. Er rennt aus der Tür, überquert, fast ohne sich umzuschauen, die Straße, läuft die Treppen zum Bahnhofsvorplatz hoch.
    Da steht er, ganz in sein Spiel versunken. Ein wenig älter geworden, aber dieselben Augen, dieselbe Haltung, der Zylinder, der Gehrock ein

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