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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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sofort erkannt. Und erzählen Sie mir nicht, Sie seien jetzt ein einfacher Arbeiter geworden.«
    Heinrich zuckt mit dem Schultern. Der Schaffner fährt unbeirrt fort: »Sie sind also auf der Flucht. Das geht mich eigentlich nichts an, und ich hätte Sie auch gar nicht behelligt, aber in Okulowka kam plötzlich die Polizei in den Zug. Haben Sie das nicht bemerkt? Da habe ich mir gedacht, es kann nicht schaden, Sie für’s erste aus
der Schußlinie zu bringen. Es war wirklich knapp. Sie hatten zweimal Glück.«
    »Zweimal?«
    »Ja, natürlich! Das erste Mal schon in Moskau! Kurz vor der Abfahrt! Ein Geheimpolizist war schon dabei, in Ihr Abteil einzusteigen; ich kenne diese ›Herren‹ inzwischen, diese auffällige Unauffälligkeit, und dann lassen sie die Falle zuschnappen. Ein ganz eigenes Volk …« Er macht eine verächtliche Handbewegung. »Doch gerade in letzter Sekunde hat ihn am Bahnsteig ein anderer Mann in ein Gespräch verwickelt. Sah aus wie ein Bolschewiki. Sind nicht die schlechtesten. Auf den ersten Blick ein etwas unheimlicher Typ. Er hatte einen großen Leberfleck auf der linken Wange.«
    Heinrich stockt der Atem: Kropotkin. Der Schaffner sprach ganz eindeutig vom schwarzen Mann!
    »So ein Leberfleck ist ja eigentlich ein Zeichen für einen Unglücksboten, aber Ihnen hat er Glück gebracht. Trotzdem sind Sie noch nicht in Sicherheit. Der Bahnhof wird gut bewacht. Aber so wie Sie aussehen, fallen Sie nicht auf! Ihre Verkleidung ist gut, wirklich! Ich werde nachsehen, wann der richtige Augenblick zum Aussteigen ist. Dann mischen Sie sich einfach unter die Menge.« Der Schaffner hält inne, um nachzudenken. »Und wenn Sie hier raus sind, gehen Sie am besten zum Finljandskij woksal, dem finnischen Bahnhof. Auf Gleis 8, ganz am Ende des Bahnsteigs, ist eine kleine Hütte für die Arbeiter. Dort fragen Sie nach Wladimir Kekkonen. Ein finnischer Russe. Man nennt ihn den ›Wikinger‹. Auch ein Roter. Er bringt Sie in einem der Güterzüge außer Landes. Natürlich kostet das. Aber er ist ein zuverlässiger Mann. Ein Freund von mir. Sagen Sie ihm, Sie kommen von Boris.«
    Heinrich nickt. »Warum tun Sie das alles für mich? Warum riskieren Sie so viel?«
    Der Schaffner schüttelt den Kopf. »Ich riskiere doch gar nichts. Was riskiere ich denn? Wenn die Polizisten Sie hier gefunden hätten, hätte ich einfach gesagt, ich hätte Sie in Petersburg der Polizei übergeben wollen und hätte Sie hierhergebracht, damit Sie nicht fliehen können. Aber dieses Abteil hier wird ohnehin nie durchsucht! So weit gehen die noch nicht!«
    »Aber Sie hätten das trotzdem nicht tun müssen.«

    »Natürlich nicht. Aber irgendwie hat mir Ihre direkte Art schon immer gefallen. Und vor allem: Ich kann es nicht ertragen, mit anzusehen, wie man den Deutschen hier inzwischen zusetzt. Meine Frau ist Deutsche …«
    Heinrich lächelt. »Aber woran haben Sie mich erkannt? So gut wie Sie sagen, kann meine Verkleidung dann offenbar doch nicht sein.«
    »Den Kerl mit der Notbremse vergesse ich in meinem ganzen Leben nicht, da können Sie sich verkleiden, wie Sie wollen.«
    Die Lichter der nahenden Stadt.
    Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Ruckartige Bewegungen beim Überfahren der Weichen. Der Schaffner erhebt sich. Er drückt Heinrich die Hand.
    »Viel Glück!«
    Dann schließt er die Tür auf, wartet, bis der Zug Schrittempo erreicht und steigt aus.
    Der Zug hält.

Der Wikinger
    Einsam und ruhig liegt der Finnländische Bahnhof in der Dunkelheit der frühen Morgenstunden vor Heinrich. Etwa eine halbe Stunde lang ist er zu Fuß durch die fast menschenleere Stadt gelaufen. Er hatte nicht den direkten Weg über die Hauptstraßen Newskij Prospect und Litejnyi Prospect genommen, sondern die kleineren Seitenstraßen, war jedem anderen Passanten ausgewichen, hatte sich im Schutz der Dunkelheit beim Betreten jeder Straße vergewissert, daß er niemandem begegnen würde.
    Unangenehm war das Überqueren der langen Litejnyi Most-Brücke über die Newa gewesen. Lange hatte er am Ufer gewartet, Ausschau gehalten, ob sich am anderen Ufer jemand der Brücke näherte. Dann erst hatte er es gewagt, sie zu betreten, sich der gefährlichen Sichtbarkeit von allen Seiten auszuliefern. Ein letzter Blick auf die selbst in regnerischer Nacht atemberaubende Silhouette
der Stadt, dann ist er am Ziel. Nur noch um Haaresbreite von der Freiheit entfernt. Wenn er es schafft, diesen »Wikinger« zu finden und von ihm in einem Güterzug Richtung Finnland

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