Der Mann mit dem Fagott
wieder vor, läßt Heinrich nur einen schmalen Spalt, durch den ein wenig Licht fällt. Dann schließt er die Tür.
Heinrich befreit sich von seinen Schuhen, nimmt den groben Leinenbeutel als Kopfkissen, zieht zur Sicherheit noch einmal die Uhr auf. Der Lärm verrät ihm, daß die anderen Waggons noch beladen werden.
Schlimmer als die Fahrt nach Wjatka kann es auch nicht werden, denkt er. Der Lärm ebbt ab. Längere Stille. Dann das vertraute und ersehnte Rattern der Räder, das Pfeifen der Lokomotive. Holpernd setzt der Zug sich in Bewegung, Minute für Minute der Freiheit näher.
Helsinki
Beinahe drei Stunden sind überstanden. Er müßte in Finnland sein! Ein Gedanke, der Heinrich für Augenblicke die Fassung raubt. Mühsam zwingt er sich, noch eine Stunde lang liegenzubleiben. Zur Sicherheit. Und dann noch eine. Wenn der Zug gefahren ist, schien er recht schnell unterwegs gewesen zu sein.
Wieder ein Halt. Lärm, der auf Ladetätigkeit in einigen der Waggons schließen läßt. Plötzlich das Rasseln und Quietschen der aufgeschobenen Tür. Gleißendes Sonnenlicht. Ein strahlender Frühlingstag, der Heinrich selbst durch den schmalen Spalt, den der Wikinger zwischen den Kisten gelassen hatte, blendet. Wenn er ihn nicht belogen hatte, mußte er in Sicherheit sein.
Jemand macht sich im Waggon zu schaffen. Schritte, Gemurmel, das Schleifen weggezogener Kisten. Dann wieder Stille. Leider keine Worte, deren Sprache Heinrich die Angst nehmen könnte.
Irgendwann muß er es wagen. Er kann nicht ewig hier liegenbleiben. Alle Knochen schmerzen. Es kostet Heinrich Kraft, die Kisten wegzuschieben. Mühsam richtet er sich auf, wartet einen Moment, blickt dann vorsichtig aus der Tür. Die Männer sind beschäftigt. Niemand beachtet ihn. Er steigt aus, geht bangen Herzens den Bahndamm entlang. Wenn er jetzt ein Ortsschild in kyrillischer Schrift sieht, ist es sein Verderben. Dann ist er noch in Rußland. Irgendwo in der Tiefe des Landes.
Übermüdet und seltsam wach im gleichen Augenblick zwingt er sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Frohe Erwartung und beklemmende Angst. Vorne das große Bahnhofsgebäude. Er kommt ihm näher. Ein Zug donnert ganz in der Nähe an Heinrich vorbei. Noch ungefähr dreihundert Meter bis zum ersten Schild. Er legt sie, von plötzlicher Ungeduld getrieben, im Laufschritt zurück.
Dann der Anblick, der all seine Sinne gefangennimmt, ihn in seinem ganzen Wesen erfaßt wie noch kein Gefühl zuvor in seinem Leben und ihn gleichzeitig vor Erschöpfung und Demut gegenüber seinem Schicksal auf die Knie sinken läßt.
Es ist ein Schild in lateinischer Schrift. Und das Wort, das er liest, wird ihm in dieser Sekunde zum Tor der Freiheit, zum Inbegriff eines neuen Lebens, zum Synonym für eine verloren geglaubte Zukunft. Noch nie zuvor hat er sich so unermeßlich reich gefühlt wie in diesem Augenblick. Alle seine Wünsche und Gedanken vereinen sich in diesem einen, einzigen Wort, diesen drei Silben auf jenem Schild.
Helsinki.
5. KAPITEL
Rotterdam - Amerika, Juli bis Oktober 1957
Vor der großen Reise
»Helsinki« - Der Name des Frachters mit weißer, übertrieben verschnörkelter, schon ein wenig verblaßter Schrift auf dem schwarzen Bug des riesigen alten Schiffes, das gerade von Schleppkähnen eskortiert in den Hafen gezogen wird. Hektische Betriebsamkeit. Mächtige Ozeanriesen. Aufgewühltes Wasser. Schiffssirenen. Fischhändler. Nervöse Schreie von Möwen. Geruch nach Diesel. Nur manchmal, für einen kurzen Moment, der feinere, zarte, salzige Duft des Meeres, der Hauch von Weite, der mich die nächsten Tage begleiten wird.
Morgen werde ich hier, in diesem gewaltigen Rotterdamer Hafen, der mit seiner Imposanz all meine provinziellen Vorstellungen von einem Welthafen in den Schatten stellt, an Bord gehen. Zehn Tage lang wird die »MS Waterman« der »Rotterdam-Amerika-Line« unterwegs sein. Zehn Tage auf See, und dann werde ich sie endlich sehen: The Statue of Liberty, New York, Amerika, das Land des Swing, der Freiheit, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und wohl vielmehr noch das der unbegrenzten Unmöglichkeiten: echte Blue Jeans, Jazz, den Broadway, Hollywood, Wolkenkratzer, höher, größer, stärker, Farbenpracht, ganz anders als bei uns, ein scheinbar intaktes Land, von keinem Krieg beschadet und von keiner Schuld. Ein Musterland zum Staunen und Lernen.
Und genau das haben wir auch vor. Eine kleine Studentengruppe aus Österreich, eingeladen von der amerikanischen
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