Der Mann mit dem Fagott
Organisation
»Experiment In International Living«, um nach den Jahren des Krieges und den Anstrengungen des Wiederaufbaus etwas vom »American Way Of Life« in unsere jugendlichen Köpfe und Herzen zu säen.
Zuerst liegen zwei Wochen an der Alfred University in New York vor uns, danach vier Wochen Aufenthalt bei amerikanischen Gastfamilien in Pittsburgh, Gastseminare an Universitäten, Interviews in der lokalen Presse. Eine Chance für mich. Kontakte, Austausch, Clubs, alles aufsaugen, was es zu sehen und zu hören, zu wissen und zu erfahren gibt.
Und dann vier Wochen lang auf eigene Faust quer durch das Land. Ein Dollar Tagesbudget für jeden. Wir haben ausgerechnet, daß man von einem Dollar pro Kopf und Tag eine ausreichende Menge Milch, Brot, Cornflakes und ein wenig »Bacon«, den billigsten Speck, kaufen kann. Eine kleine Grundversorgung. Mehr haben wir nicht zur Verfügung. Schon dafür hat jeder von uns monatelang gespart. Entweder wir schaffen es mit diesem Dollar, oder wir müssen es bleibenlassen. Wir haben uns entschlossen, es zu versuchen. Es muß einfach gelingen! »Unmöglich« - das gibt’s nicht! Ein bißchen Angst vor der eigenen Courage. Keine Ahnung, was da vor mir liegt, wie es mich und meine Welt verändern wird. Aufbruchsstimmung. Nervosität und Vorfreude.
Wie muß sich da erst mein Großvater gefühlt haben, als er vor fast 66 Jahren von Bremen nach Rußland aufbrach, um erwachsen zu werden, um seinen Weg zu finden.
Ob uns Abenteurer von heute viel von den damaligen Glücksrittern unterscheidet? Ich weiß es nicht, vermute, daß mein Großvater vornehmer unterwegs war als wir heute mit unserem kleinen, klapprigen Minibus, den Herwig für die Fahrt nach Rotterdam irgendwoher »organisiert« hat. Sechzehn Stunden Fahrt von Klagenfurt aus liegen hinter uns vier Weltenbummlern und Gitta, die mitgekommen ist, um vor der langen Zeit der Trennung, die vor uns liegt, noch ein paar gemeinsame Stunden mit mir zu verbringen. Unsere Freunde unternehmen eine kleine Fahrt durch Rotterdam. Nutzen die kurze Zeit für einen ersten Eindruck von der »großen, weiten Welt«. Gitta und ich wollen allein sein, die letzten Stunden mit niemandem teilen. Hilflose Gefühle und die leise Ahnung, daß es im Leben nicht genügt, sich zu lieben.
Abschied nehmen. Brücken hinter mir nicht einreißen, sie aber doch sich selbst überlassen. Alles für möglich halten und es so nehmen, wie es kommt. Mich nicht gebunden fühlen.
Ich habe es mir einfacher vorgestellt, und doch weiß ich, daß mein Leben, meine Ziele es von mir fordern. Auch mein Wesen. Vielleicht ist es die Unruhe meines Großvaters in mir. Und die meines Urgroßvaters, des Kapitäns, der im letzten Jahrhundert auf seinem Dampf-Segelschiff die Route Bremen - New York befuhr, Auswanderer in die Neue Welt geleitete und die, die es nicht geschafft hatten, zurück. Ein ewig Reisender. Von einem Abschied zum nächsten. Nirgends zu Hause und doch ganz bei sich selbst.
Gedankenverloren wirft Gitta Brotkrumen ins Wasser, füttert die Möwen, und ich weiß mit einemmal, daß dies ein Bild sein wird, das ich niemals vergessen werde: Gitta in ihrem hellen Sommerkleid am Pier, das rötlich-dunkle Haar von der Brise leicht zerzaust, ein Lächeln zwischen Nachdenklichkeit und Selbstironie im Blick. Letzte gemeinsame Stunden. Der erste Sommer seit vier Jahren, den ich ohne sie verbringen werde. Eindrücke, Erfahrungen, die alles verändern können.
Gitta versucht, es mir leichtzumachen. »Egal, was aus uns wird, die Reise ist gut für dich. Und wichtig. Wichtiger als ich, als wir. Stell dir vor, was du alles sehen wirst! Das wird dich alles deinen Zielen näher bringen.«
Ich nicke, weiß, daß sie recht hat. »Aber daß alles, was für mich gut ist, immer für uns schlecht sein muß.«
Sie lacht, und ich bewundere sie für die Leichtigkeit und Offenheit dieses Lachens. »Nun mal’ doch nicht alles so schwarz! Das paßt doch gar nicht zu dir! Im Moment ist das eben so. Und vielleicht …« Sie bricht mitten im Satz ab, als wäre ihr die Aussichtslosigkeit dieses »vielleicht« selbst gerade bewußt geworden. Ein Hauch von Melancholie auf ihrem Gesicht, dann ein fast spöttischer, trotziger, lebensfroher Zug um ihre Lippen, Kraft in ihrem Blick. »Wie auch immer es wird, es wird gut sein.«
Ich fühle in ihr eine Größe, die mir zu fehlen scheint.
»Laß uns irgendetwas trinken gehen«, schlage ich so leichtmütig wie möglich vor, und es erscheint mir
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