Der Mann mit dem Fagott
Taschen der fremden Jacke, findet schließlich das Billett. Ein kurzer Blick auf die Karte. »Hier müssen wir etwas klären.« Und leiser: »Bitte, folgen Sie mir!«
Zögernd und mit stockendem Atem erhebt sich Heinrich. Der Schaffner führt ihn auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite ins Freie, führt ihn am Zug entlang zu den Erster-Klasse-Waggons. Er
hat jetzt keine Wahl, als abzuwarten, was das Schicksal in Gestalt dieses Schaffners für ihn vorsieht.
Dieser geht schweigend vor ihm her, schließt die Tür zu seinem Dienstabteil in der ersten Zugklasse auf.
»Steigen Sie ein, und schließen Sie den Vorhang! Ich will Sie nicht am Fenster sehen!« Keine Erklärung. Dann schließt er die Tür hinter Heinrich ab. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Auch die Tür zur anderen Seite ist verschlossen. Heinrich ist wieder gefangen.
Nervös geht er im Abteil auf und ab. An Stillsitzen ist nicht mehr zu denken. Noch fast drei Stunden bis St. Petersburg. Vielleicht ist der Schaffner ja längst dabei, Kontakt mit der Polizei aufzunehmen, ihn abholen zu lassen. Woher kannte er ihn nur?
Ja, jetzt erinnert er sich wieder. Er war oft mit dem Zug gefahren. Früher. Mindestens einmal im Monat nach St. Petersburg. Und fast jedes Wochenende zu seiner Datscha in Nemtschinovka. Anfangs hatte die Bahn dort nicht gehalten. Er hatte fast eine halbe Stunde lang weiterfahren und von dort aus mit der Kutsche oder dem Automobil zurückfahren müssen, obwohl der Zug direkt an seinem Grundstück vorbeifuhr. Heinrich war die längere Zugfahrt, die nachfolgende Kutschfahrt lästig. Sie raubte ihm kostbare Zeit seiner Wochenenden. So hatte Heinrich begonnen, wenn der Zug an seinem Grundstück vorbeifuhr, ganz einfach die Notbremse zu ziehen. Die Kutsche hatte er an jene Stelle bestellt, und er begann in aller Ruhe mit dem Umladen des Gepäcks, bis der Schaffner kam und schimpfend und zeternd die Strafe für diesen Mißbrauch kassierte. Heinrich hatte sie ohne zu zögern bezahlt - und ein fürstliches Trinkgeld obendrauf. Nachdem er sich so einige Male den mühsamen Weg erspart hatte, erklärte der Schaffner schon bei der Fahrkartenkontrolle, der Zug werde heute am gewünschten Ort halten. Heinrich könne sich also das Ziehen der Notbremse sparen. Er kassierte das Trinkgeld schon bei Antritt der Fahrt, und fortan hielt der Zug Richtung Minsk an Heinrichs Datscha, wenn er selbst, Anna oder Gäste der Bockelmanns im Zug saßen. Ja, jetzt weiß er es wieder: das Gesicht des Schaffners. Es war ihm gleich so bekannt vorgekommen. Es war jener, der damals oft an der Strekke nach Nemtschinovka Dienst tat. Bestimmt hatte er Heinrich erkannt. Er hatte sich damals ja auch auffällig genug verhalten.
Würde er nun mit seinem Leben für seine Dreistigkeit bezahlen müssen?
Vier Schritte hin, vier Schritte zurück. Das feindselige Pfeifen der Lokomotive, das Rattern der Räder, das auch alle Gedanken überrollt. Gefangen.
Diesmal hat die Begegnung mit dem Mann mit dem Fagott ihm offenbar kein Glück gebracht.
Heinrich geht ans Fenster. Sachte schiebt er den Vorhang beiseite. Tiefe, regnerische Nacht. Sein fremdes Gesicht im Spiegel. Rhythmisch die Lichtblitze entlang der Strecke. Das Fenster läßt sich öffnen. Vorbeifliegende Landschaft. Einzelne Regentropfen fallen ins Abteil. Glänzend die kalten, harten Schienen. Rauch, den der Fahrtwind in sein Gesicht drückt. Heinrich beugt sich ein wenig nach draußen. Das Pfeifen einer entgegenkommenden Lokomotive. Nein, das ist kein Ausweg für ihn. Nicht so. Keine Selbstaufgabe, solange noch Hoffnung besteht, und wenn es auch nur ein Funken ist. Heinrich schließt das Fenster wieder. Zieht zumindest die engen, harten Schuhe aus. Vier Schritte hin, vier Schritte her. Das donnernde Geräusch der Stahlbrücke über den Wolchow. Bald würde sich sein Schicksal entscheiden.
Wieder ein Halt. Kolpino. Noch an die zwanzig Minuten bis St. Petersburg. Ein Schlüssel wird im Schloß gedreht. Jetzt schon? Heinrichs entsetzter Gedanke, doch der Schaffner ist allein. Er schließt die Tür von innen wieder ab.
»Wissen Sie schon, wie es weitergehen soll, wenn wir in Petersburg angekommen sind? Haben Sie einen Plan?«
Heinrich sieht den Schaffner verdutzt an. Was für eine merkwürdige Frage. »Wie meinen Sie das?«
Der Schaffner runzelt die Stirn. »Sie können mit dem Versteckspiel aufhören! Ich habe Sie erkannt. Sie sind der verrückte Deutsche, der im Zug nach Minsk immer die Notbremse gezogen hat. Ich habe Sie
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