Der Mann mit den hundert Namen
gefaßt zu werden, bevor er sich durch die Menge drängen und einen Ausgang erreichen konnte. Er mußte sich durch Dreistigkeit retten, bezweifelte jedoch, den Mann, wenn dieser erst die Wunde gesehen hatte, mit seiner erfundenen Erklärung überzeugen zu können. Er würde Fragen über Fragen beantworten müssen. Vermutlich war inzwischen auch das Phantombild eingetroffen. Eins stand fest: Die Maschine um zwölf Uhr fünfzig nach Miami würde ohne ihn starten. Schade, beinahe hätte es geklappt, dachte er.
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In den USA ist ein Verdächtiger unschuldig, bis seine Schuld erwiesen ist. In Mexiko, das seine Rechtsprechung auf den Code Napoleon gründet, ist es umgekehrt: Ein Verdächtiger ist schuldig, bis seine Unschuld erwiesen ist. Gefangene werden nicht darüber informiert, daß sie das Recht zur Aussageverweigerung haben oder daß ihnen ein Anwalt zur Verfügung gestellt wird, falls sie sich keinen leisten können. Das Recht, innerhalb von zwei Tagen verhört zu werden, sowie ein Recht auf ein umgehendes Gerichtsverfahren gibt es nicht. Solche Anschauungen werden in Mexiko belächelt. Ein Gefangener hat keine Rechte.
Buchanan teilte einen muffigen, von Flöhen befallenen Käfig, sechs Meter lang und fünf Meter breit, mit zwanzig zerlumpten Gefangenen, meist wohl Dieben und Vagabunden. Um niemanden anzurempeln und darüber in Streit zu geraten, achtete Buchanan darauf, daß er sich nicht von der Stelle rührte. Die anderen schliefen eng beieinander im schmutzigen Stroh auf der Erde, er hockte an der Wand und döste, den Kopf auf den Knien. Solange wie möglich zögerte er die Benutzung eines Lochs in der Ecke hinaus, das als Toilette diente. Trotz seiner Benommenheit gab er sich Mühe, gegen einen möglichen Angriff auf der Hut zu sein. Als einziger yanquí war er ein bequemes Opfer. Uhr und Brieftasche waren ihm zwar abgenommen worden, doch seine Kleider und vor allem die Schuhe, besser als die der anderen Gefangenen, waren eine Versuchung.
Die meiste Zeit verbrachte Buchanan nicht in der Zelle, und die Übergriffe gingen nicht von den Mitgefangenen, sondern von den Wärtern aus. Auf dem Weg von der Zelle zum Verhör wurde er gestoßen und Treppen hinuntergeworfen. Während der Befragungen wurde er mit Stöcken traktiert und mit Gummischläuchen geschlagen, immer an Stellen, die von der Kleidung bedeckt waren, niemals ins Gesicht oder an den Kopf. Dennoch erlitt er Kopfverletzungen, als sie nämlich den Stuhl umstießen, an den er gefesselt war. Wenn ein Arzt die Schulter nicht noch einmal genäht und verbunden hätte, wäre er im Gefängnis von Merida wahrscheinlich an Blutverlust und einer Infektion gestorben. Natürlich wurde der Arzt nicht aus Mitleid geholt, sondern einfach aus praktischen Erwägungen: Ein toter Mann kann keine Fragen beantworten. Buchanan war mit dieser Einstellung vertraut und wußte, daß die Inquisitoren, hatten sie die gewünschten Auskünfte einmal erhalten, sich nicht zu weiteren medizinischen Aufmerksamkeiten verpflichtet sahen.
Seine Weigerung, eine Aussage zu machen, wurde von drei Umständen begünstigt: Erstens bedienten sich seine Peiniger ungeschickter, brutaler Methoden, denen leichter zu widerstehen war als der gekonnten Anwendung von Elektroschocks kombiniert mit Wahrheitsdrogen. Zweitens neigte er in seinem geschwächten Zustand dazu, während der Folter ohnmächtig zu werden, was einer natürlichen Betäubung gleichkam. Und drittens hatte er eine vorgeschriebene Rolle zu spielen und einem Szenario zu folgen, das ihm sein Verhalten vorschrieb.
Die Grundregel lautete, daß er als Gefangener nie die Wahrheit gestehen durfte: Teilwahrheiten konnte er preisgeben, um darauf eine glaubhaftere Lüge aufzubauen. Die ganze Wahrheit war nicht erlaubt. Buchanans Geständnis, daß er in Notwehr drei Mexikaner getötet hatte, die nachweislich Drogenhändler waren, und als verdeckter Ermittler für eine geheime Abteilung der United States Army tätig war, hätte ihm zwar das Leben gerettet, doch hätte er davon nicht viel gehabt. Als Lehre für die USA, sich nicht in mexikanische Angelegenheiten einzumischen, hätte er eine sehr lange Gefängnisstrafe in Mexiko absitzen müssen. Wenn man die harten Bedingungen in mexikanischen Gefängnissen, vor allem für yanquís , berücksichtigte, dann würde das einem Todesurteil gleichkommen. Andererseits, wenn Mexiko ihn als Geste des guten Willens (und für Gegenleistungen) an die USA auslieferte, dann würden ihm seine Vorgesetzten das
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