Der Mann mit der Ledertasche.
und dann meine Pause gemacht. Ich war nur zehn Minuten weg.«
»Sie haben sich Ihren eigenen Strick gedreht, Chinaski! Sie sind vierzig Minuten weggewesen! Ich habe sieben Zeu- gen!«
»Sieben Zeugen?«
»JAWOHL, 7!«
»Ich sag Ihnen doch, es waren nur zehn Minuten.«
»Nein, diesmal haben wir Sie, Chinaski! Diesmal sind Sie
wirklich dran!«
Dann hatte ich es satt. Ich wollte ihn nicht mehr ansehen: »Na schön, meinetwegen. Ich war vierzig Minuten weg.
Wie Sie meinen. Schreiben Sie's eben auf.«
Chambers lief davon.
Ich verteilte noch ein paar Briefe, dann kam der Ober- aufseher auf mich zu. Ein dünner weißer Mann mit kleinen grauen Haarbüscheln über den Ohren. Ich blickte ihn an und wandte mich dann ab und verteilte meine Briefe.
»Mr. Chinaski, sicherlich verstehen Sie die Regeln und Vorschriften der Post. Jedem Angestellten stehen zwei zehn- minütige Pausen zu, eine vor dem Essen, die andere nach- her. Dieses Recht auf zwei Pausen wird Ihnen von der Ver- waltung eingeräumt: zehn Minuten. Zehn Minuten sind -«
»HERRGOTTSAKRAMENT!« Ich warf meine Briefe hin. »Ich hab vierzig Minuten zugegeben, nur damit ihr Bur- schen zufrieden seid und ich euch loshabe. Aber ihr kommt immer wieder! Jetzt nehm ich alles zurück! Ich hab nur zehn Minuten Pause gemacht! Ich will eure sieben Zeugen sehen! Her damit!«
Zwei Tage danach war ich auf der Rennbahn. Ich blickte auf und sah all diese Zähne, dieses breite Lächeln und die leuchtenden freundlichen Augen. Was war denn das — mit all diesen Zähnen? Ich schaute genauer hin. Es war Cham- bers, der mich ansah, der lächelnd in einer Schlange vor dem Kaffeeautomaten stand. Ich hatte ein Bier in der Hand. Ich ging zu einem Abfalleimer hin und spuckte hinein, ohne den Blick von ihm zu lassen. Dann ging ich weg. Chambers machte mir nie wieder Schwierigkeiten.
17
Das Baby kroch herum, entdeckte die Welt. Marina schlief die ganze Nacht bei uns im Bett. Da waren Marina, Fay, die Katze und ich. Die Katze schlief auch auf dem Bett. Da schau her, sagte ich mir, ich habe drei Mäuler zu stopfen. Wie eigenartig. Ich saß da und betrachtete sie beim Schlafen. Dann erlebte ich es zweimal nacheinander, als ich im Mor- gen, am frühen Morgen, heimkam, daß Fay im Bett saß und den Wohnungsmarkt in der Zeitung studierte.
»Diese Zimmer sind alle so verdammt teuer«, sagte sie. »Klar«, sagte ich.
Am nächsten Morgen fragte ich sie, während sie die Zei- tung las:
»Ziehst du aus?«
»Ja.«
»Also gut. Ich helf dir morgen bei der Zimmersuche. Ich
fahr dich mit dem Auto herum.«
Ich willigte ein, ihr jeden Monat einen bestimmten Betrag zu bezahlen. Sie sagte: »Also gut.«
Fay bekam das Mädchen. Ich bekam die Katze.
Wir fanden ein Zimmer, acht oder zehn Straßenblocks entfernt. Ich half ihr einziehen, verabschiedete mich von dem Mädchen und fuhr zurück.
Ich ging zwei-, drei- oder viermal in der Woche hin, um Marina zu besuchen. Ich wußte, solange ich die Kleine be- suchen konnte, würde es mir gutgehen.
Fay trug immer noch Schwarz, um gegen den Krieg zu protestieren. Sie nahm an örtlichen Demonstrationen für den Frieden teil, ebenso an Love-ins, ging zu Dichterlesun- gen, Schriftstellerkursen, Parteiversammlungen der Kommunisten und saß stundenlang in einem Hippie-Kaffeehaus. Das Kind nahm sie mit. Wenn sie nicht fort war, saß sie in einem Stuhl und rauchte eine Zigarette nach der anderen und las. Auf ihrer schwarzen Bluse hatte sie Protestplaket- ten. Doch meistens war sie irgendwo unterwegs, wenn ich hinfuhr, um einen Besuch zu machen.
Eines Tages waren sie dann schließlich doch zuhause. Fay aß gerade Sonnenblumenkerne mit Joghurt. Sie backte ihr eigenes Brot, aber es war nicht besonders gut.
»Ich hab Andy kennengelernt, er ist Fernfahrer«, sagte sie mir. »Nebenher malt er. Das ist eins seiner Bilder.« Fay zeigte zur Wand.
Ich spielte mit dem Mädchen. Ich betrachtete mir das Bild. Ich sagte nichts.
»Er hat einen großen Schwanz«, sagte Fay. »Neulich kam er abends her und fragte mich: >Würdest du dich gern mit einem großen Schwanz ficken lassen?< Ich antwortete ihm: >Ich laß mich lieber mit Liebe ficken!<«
»Offenbar ein Mann von Welt«, sagte ich ihr.
Ich spielte noch ein Weilchen mit der Kleinen und ging dann. Ich mußte noch für meine nächste Prüfung lernen.
Bald danach erhielt ich einen Brief von Fay. Sie und das Kind lebten in einer Hippie-Kommune in New Mexico. Es sei schön dort, sagte sie. Dort würde Marina frei atmen können. Sie legte
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