Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
wahrscheinlichsten darin, daß Ulrich etwas abgehe. Dennoch war an diesem Menschen im ganzen etwas Unverbrauchtes und Freies, und Arnheim gestand sich zögernd ein, daß es ihn geradezu an das »Geheimnis des Ganzen« erinnere, das er selbst besaß und durch diesen anderen in Frage gestellt fühlte. Wie wäre es sonst, wenn es sich bloß um das dem messenden Verstand Zugängliche gehandelt haben würde, auch möglich gewesen, das gleiche unbehagliche Gefühl »Witz« auf einen solchen Unwirklichkeitsmenschen anzuwenden, das Arnheim an einem allzu genauen Kenner der Wirklichkeit, wie es sein Vater war, fürchten gelernt hatte! »Diesem Menschen fehlt also im ganzen etwas!« dachte Arnheim, aber als wäre dies nur die andere Seite dieser Gewißheit, fiel ihm fast im gleichen Augenblick und ganz ohne seinen Willen ein: »Dieser Mann hat Seele!«
Dieser Mann besaß noch unverbrauchte Seele: da es sich um eine intuitive Eingebung handelte, hätte Arnheim nicht genau angeben können, was er damit meinte; aber irgendwie war es so, daß jeder Mensch, wie er wußte, seine Seele mit der Zeit in Verstand, Moral und große Ideen auflöst, was ein unwiderruflicher Vorgang ist; und bei seinem Freundfeind war der nicht bis zu Ende geraten, so daß etwas übrig blieb, dessen zweideutigen Reiz man nicht recht bezeichnen konnte, aber daran erkannte, daß dieses Etwas ungewöhnliche Verbindungen mit Elementen aus der Sphäre des Seelenlosen, Rationalen und Mechanischen einging, die sich nicht mehr recht zu den Kulturinhalten zählen ließen. Arnheim hatte, während er das alles überlegte und sogleich der Ausdrucksweise seiner philosophischen Werke anpaßte, übrigens nicht einen Augenblick Zeit gehabt, etwas davon Ulrich als ein Verdienst, und sei es auch nur dessen einziges, zugute zu schreiben, so stark war der Eindruck, eine Entdeckung gemacht zu haben; er selbst war es, der diese Vorstellungen schuf, und kam sich wie der Meister vor, der in einer noch ungehobenen Stimme den möglichen Glanz entdeckt. Seine Gedanken kühlten sich erst an Solimans Gesicht ab, der ihn offenbar schon lange angestarrt hatte und nun die Gelegenheit gekommen glaubte, weiter zu fragen. Das Bewußtsein, daß es nicht jedermann gegeben sei, seine Erkenntnisse mit Hilfe eines solchen kleinen stummen Halbwilden zu fassen, erhöhte Arnheims Glück, der einzige zu sein, der seines Widersachers Geheimnis kannte, obgleich da manches noch nicht klar und in den Folgen zu erkennen war, die es haben werde. Er fühlte bloß die Liebe, die ein Wucherer für sein Opfer empfindet, in dem er sein Kapital stecken hat. Und vielleicht war es da Solimans Anblick, der ihm plötzlich den Vorsatz eingab, diesen Mann, der ihm das anders verkörperte Abenteuer seiner selbst zu sein schien, um jeden Preis an sich zu ziehen, und sei es, daß er ihn dazu an Sohnes Statt annehmen müßte! Er lächelte über diese voreilige Bekräftigung einer Absicht, deren Gestalt erst ausreifen mußte, und schnitt Soliman, dessen Gesicht vor tragischer Wissensbegierde zuckte, gleichzeitig das Wort mit der Eröffnung ab: »Ich habe jetzt genug, und du mußt die Blumen zu Frau Tuzzi tragen, die ich bestellt habe. Wenn du noch etwas zu fragen hast, so können wir ja vielleicht ein andermal daran denken.«
113
Ulrich unterhält sich mit Hans Sepp und Gerda in der Mischsprache des Grenzgebiets zwischen Über- und Untervernunft
ULRICH WUSSTE wahrhaftig nicht, was er tun sollte, um den Wunsch seines Vaters zu erfüllen, der von ihm verlangte, daß er einer persönlichen Rücksprache mit Sr. Erlaucht und anderen hohen Patrioten aus Begeisterung für die soziale Schule vorarbeite, und so suchte er Gerda auf, um das gründlich zu vergessen. Er traf Hans bei ihr an, und Hans ging sofort zum Angriff über. »Sie haben Direktor Fischel in Schutz genommen?«
Ulrich antwortete mit der ausweichenden Gegenfrage, ob ihm Gerda davon erzählt habe?
Ja; Gerda hatte ihm erzählt.
»Was weiter? Wollen Sie hören, weshalb?«
»Ich bitte darum!« verlangte Hans.
»Das ist nicht so einfach, lieber Hans.«
»Sagen Sie nicht, lieber Hans!«
»Also dann, liebe Gerda,« er wandte sich an sie »es ist gar nicht einfach. Ich habe schon so furchtbar viel davon gesprochen, daß ich dachte, Sie verstünden mich?«
»Ich verstehe Sie auch, aber ich glaube Ihnen nicht« antwortete Gerda, bemühte sich jedoch, durch die Art, wie sie es sagte und ihn dabei ansah, ihrer Kampfstellung an der Seite Hansens etwas für Ulrich
Weitere Kostenlose Bücher