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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Seele jener vielförmigen irrationalen Bewegung, die wie ein Nachtvogel, der sich in den Tag verloren hat, durch unsre Zeit geistert.
    Ein skurriles Teilchen dieser mannigfachen Bewegung war auch der Kreis und Wirbel, in dem Hans Sepp seine Rolle spielte. Wenn man die Ideen zusammenzählte – was man aber nach den dort geltenden Grundanschauungen nicht dürfte, denn diese waren Zahl und Maß abgeneigt – die einander in dieser Gesellschaft ablösten, so würde man die schüchterne erste und durchaus platonische Forderung der Probe- und Kameradschaftsehe, ja der Polygamie und Polyandrie angetroffen haben; dann weiter in Kunstfragen die ungegenständliche, auf das Allgemeingültige und Ewige gerichtete Gesinnung, die sich damals unter dem Namen Expressionismus von der groben Erscheinung und Hülle, der »platten Außenschau« verächtlich abwendete, deren getreue Abschilderung unbegreiflicherweise ein Menschenalter zuvor für revolutionär gegolten hatte; verträglich vereint mit dieser abstrakten Absicht, ohne viel äußere Umstände unmittelbar eine »Wesenschau« des Geistes und der Welt hinzubildern, fand sich aber auch die konkreteste und beschränkteste vor, nämlich die der Heimatkunst, wozu diese jungen Leute sich durch ihre deutschen Seelen und deren dienende Ehrfurcht verpflichtet glaubten; und so würde man in bunter Reihe noch die herrlichsten auf den Wegen der Zeit aufgeklaubten Halme und Gräser gefunden haben, aus denen sich dem Geist ein Nest bauen läßt, worunter aber namentlich üppige Vorstellungen von Recht, Pflicht und schöpferischer Kraft der Jugend eine so große Rolle spielten, daß sie eingehender zu erwähnen sind. Die Gegenwart kenne, hieß es, kein Recht der Jugend, denn bis zu seiner Volljährigkeit sei der Mensch so gut wie rechtlos. Vater, Mutter, Vormund können ihn kleiden, herbergen, nähren, wie sie wollten, züchtigen und nach Hans Seppens Ansicht zugrunderichten, soweit sie nur eine ferne Paragraphengrenze nicht überschritten, die dem Kinde höchstens eine Art Tierschutz gewährt. Es gehöre den Eltern wie der Sklave dem Herrn und sei durch seine wirtschaftliche Abhängigkeit Eigentum, Objekt des Kapitalismus. Dieser »Kapitalismus am Kinde«, dessen Darstellung Hans ursprünglich irgendwo erwähnt gefunden, dann aber selbst ausgebildet hatte, war das erste, was er seiner erstaunten und bisher zu Hause recht wohlgeborgen gewesenen Schülerin Gerda beibrachte. Das Christentum habe nur das Joch des Weibes gemildert, nicht das der Tochter; die Tochter vegetiere, denn sie werde dem Leben mit Gewalt entfremdet: nach dieser Vorbereitung lehrte er sie das Recht des Kindes, seine Erziehung nach den Gesetzen seines eigenen Wesens aufzubauen. Das Kind sei schöpferisch, weil es Wachstum sei und sich selbst schaffe. Es sei königlich, weil es der Welt seine Vorstellungen, Gefühle und Phantasien vorschreibe. Es wolle von der zufälligen fertigen Welt nichts wissen, sondern baue seine eigene Welt der Ideale. Es habe seine eigene Sexualität. Die Erwachsenen begehen eine barbarische Sünde, indem sie das Schöpfertum des Kindes durch den Raub seiner Welt zerstören, unter herangebrachtem, totem Wissensstoff ersticken und auf bestimmte, ihm fremde Ziele abrichten. Das Kind sei unzweckhaft, sein Schaffen Spiel und zärtliches Wachsen; es nehme, wenn man es nicht durch Gewalt stört, nichts an, als was es wahrhaft in sich hineinnimmt; jeder Gegenstand, den es berührt, lebe, das Kind sei Welt, Kosmos, es sehe das Letzte, Absolute, wenn es das auch nicht ausdrücken kann: aber man töte das Kind, indem man es Zwecke begreifen lehre und es an das gemeine Jedesmalige feßle, das man lügnerischerweise das Wirkliche nennt! – So Hans Sepp. Er war, als er diese Lehre in das Haus Fischel einzupflanzen begann, schon einundzwanzig Jahre alt gewesen, und Gerda nicht jünger. Außerdem besaß Hans längst keinen Vater mehr und war mit seiner Mutter, die ein kleines Geschäft betrieb, von dem sie ihn und seine Geschwister ernährte, jederzeit herzbefreiend grob, so daß ein unmittelbarer Anlaß zu einer solchen Philosophie der Unterdrückten für die armen Kinder eigentlich nicht bestand.
    Gerda schwankte denn auch bei deren Aufnahme zwischen einem sanften pädagogischen Hang, zukünftige Menschen zu erziehen, und der unmittelbar kämpferischen Ausnützung im Verhalten zu Leo und Klementine. Hans Sepp dagegen behandelte es viel grundsätzlicher und gab die Losung aus: »Wir alle sollten Kinder sein!«

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