Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Gerda wurde blaß und verlegen. Die Worte »Ich würde Gerda in meine Arme schließen und festhalten« hatten auf sie den Eindruck eines geheimen Versprechens gemacht. Es war ihr in diesem Augenblick ganz gleichgültig, wie man sich das »andere Leben« am folgerichtigsten vorstelle, und sie war sicher: wenn Ulrich richtig wollte, er würde alles so ausführen, wie es sein müßte. Hans, zornig über den Verrat Gerdas, den er fühlte, bestritt, daß das gelingen müsse, wovon Ulrich rede; die Zeit sei nicht geeignet, und die ersten Seelen müßten genau so wie die ersten Flugzeuge von einem Berg abfliegen und nicht von einer Talzeit. Vielleicht müsse erst ein Mensch kommen, der die anderen aus ihrer Verfangenheit erlöse, ehe das Höchste gelingen könne! Es erschien ihm nicht ausgemacht, daß keinesfalls er dieser Erlöser sein könnte, aber das war seine Sache, und davon abgesehen bestritt er, daß der gegenwärtige Tiefstand imstande sei, einen hervorzubringen.
Nun sagte Ulrich etwas davon, wieviele Erlöser es heute schon gebe. Jeder bessere Vereinsobmann gelte für einen solchen! Er war überzeugt, wenn selbst Christus wiederkäme, er träfe es schlechter an als ehedem; die sittlich gesinnten Zeitungen und Buchgemeinschaften würden seinen Ton zu wenig gemütvoll finden, und die große Weltpresse würde sich ihm kaum öffnen! – Alles war somit wieder wie am Beginn, das Gespräch war in die Lage seines Anfangs zurückgekehrt, und Gerda sank in sich zusammen.
Aber eines war anders, Ulrich hatte sich, ohne es zu zeigen, ein wenig verfangen. Seine Gedanken waren nicht bei seinen Worten. Er sah Gerda an. Ihr Körper war scharf, ihre Haut ermüdet und trüb. Die altjüngferliche Überhauchtheit ihres Wesens wurde ihm mit einemmal deutlich, obgleich sie wahrscheinlich immer die Hauptrolle in der Hemmung gespielt hatte, die ihn mit diesem jungen Mädchen, das ihn liebte, nicht eins werden ließ. Darauf wirkte ja offenbar auch Hans mit dem Halbkörperlichen seiner Gemeinschaftsahnungen ein, die gleichfalls etwas der altjüngferlichen Gefühlslage nicht ganz Fernliegendes an sich haben mochten. Gerda mißfiel Ulrich, und doch hatte er das Verlangen, das Gespräch mit ihr fortzusetzen. Das erinnerte ihn daran, daß er sie eingeladen habe, ihn zu besuchen. Sie hatte durch nichts erkennen lassen, ob sie diesen Vorschlag vergessen habe oder noch daran denke, und er fand keine Gelegenheit mehr, sie heimlich danach zu fragen. Es ließ ein unruhiges Bedauern in ihm zurück und eine Erleichterung, wie wenn man eine Gefahr an sich vorbeigehen fühlt, die man zu spät erkannt hat.
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Die Verhältnisse spitzen sich zu. Arnheim ist sehr huldvoll zu General Stumm. Diotima trifft Anstalten, sich ins Grenzenlose zu begeben. Ulrich phantasiert von der Möglichkeit, so zu leben, wie man liest
SEINE ERLAUCHT hatte dringend gewünscht, daß sich Diotima über den berühmten Makart-Festzug unterrichte, der in den Siebzigerjahren ganz Österreich in Begeisterung vereint hatte; er erinnerte sich noch genau an die teppichbehängten Wagen, die schwer beschirrten Pferde, die Trompeter und den Stolz, den die Leute über ihre mittelalterliche Tracht empfanden, die sie dem Alltagsleben entriß. So kam es, daß Diotima, Arnheim und Ulrich aus der Hofbibliothek traten, die sie nach zeitgenössischen Darstellungen durchsucht hatten. Wie es Diotima lippenrümpfend Sr. Erlaucht vorausgesagt hatte, war das Ergebnis ein unmögliches; mit solchem Seelenplunder konnte man die Menschen nicht mehr ihrem Alltagsleben entreißen, und die schöne Frau verkündete ihren Begleitern das Bedürfnis, sich des hellen Sonnenscheins und des Jahres 1914 zu freun, das in weiter Entfernung von jener vermoderten Zeit schon seit etlichen Wochen begonnen hatte. Diotima hatte auf der Treppe erklärt, daß sie zu Fuß nach Hause zu gehen wünsche, sie waren aber kaum ans Licht getreten, so stießen sie auf den General, der zum Tor der Bibliothek hinein wollte und sich, weil er nicht wenig stolz war, bei solcher wissenschaftlichen Tätigkeit angetroffen zu werden, sofort bereit erklärte, umzukehren und das Gefolge Diotimas auf dem Heimweg um seine Person zu vermehren. Darum fand Diotima schon nach einigen Schritten heraus, daß sie müde sei, und wünschte einen Wagen. Es kam aber nicht gleich ein freies Fuhrwerk vorbei, und so standen sie alle auf dem Platz vor der Bibliothek, der ein trogförmiges Rechteck bildete, dessen drei Seiten von herrlichen alten Wänden
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