Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
und fühlten die zitternd zarte Vereinigung der Wesen, die daraus entsteht, daß man einander betrachtet, sich in das unsichtbare Wellenspiel hinter Brust und Stirn des anderen gleiten läßt und in dem Augenblick, wo man sich zu verstehen glaubt, fühlt, daß man gegenseitig sich in sich trägt und eins ist. In Stunden, die nicht ganz so hochgemut waren, begnügten sie sich jedoch auch mit gewöhnlicher Bewunderung für einander; sie erinnerten sich dann gegenseitig bloß an berühmte Bilder oder Szenen und staunten, wenn sie sich küßten, daß – um ein stolzes Wort zu wiederholen – Jahrtausende auf sie herabsahen. Denn sie küßten einander; sie erklärten in der Liebe das grobe Gefühl des sich im Körper krümmenden Ichs zwar für ebenso niedrig wie ein Magenkrümmen, aber ihre Glieder kümmerten sich nicht ganz um die Anschauungen der Seelen und preßten sich auf eigene Verantwortung aneinander. Sie waren nachher jedesmal beide ganz verstört. Ihre zarte Philosophie hielt vor dem Bewußtsein, daß niemand in der Nähe sei, dem Dämmern der Zimmer, der rasend wachsenden Anziehungskraft zusammengeschmiegter Körper nicht stand, und namentlich Gerda, als Mädchen die ältere von beiden, empfand dann das Verlangen nach vollendeter Umarmung so arglos stark, wie ein Baum empfinden könnte, den irgendetwas hindert, im Frühling zu blühen. Diese halben Umarmungen, so salzlos wie Kinderküsse und ohne Grenzen wie die Liebkosungen von Greisen, ließen sie jedesmal zerschmettert zurück. Hans fügte sich besser darein, denn er sah es, so wie es vorbei war, als eine Prüfung auf die Gesinnung an. »Uns ist es nicht gegeben, Besitzende zu sein,« lehrte er »wir sind Wanderer, die von Stufe zu Stufe schreiten«; und wenn er bemerkte, wie Gerda vor Unbefriedigung am ganzen Leibe zitterte, so stand er nicht an, ihr das als Schwäche, wenn nicht gar als einen Rest ungermanischer Abkunft anzurechnen, und kam sich wie der gottgefällige Adam vor, dessen Männerherz abermals von seiner gewesenen Rippe dem Glauben entfremdet werden soll. Gerda verachtete ihn dann. Und wahrscheinlich war das der Grund, warum sie Ulrich wenigstens früher so viel wie möglich davon erzählt hatte. Sie ahnte, ein Mann würde mehr und weniger tun als Hans, der sein tränenüberströmtes Gesicht, nachdem er sie beleidigt hatte, wie ein Kind zwischen ihren Beinen verbarg; und ebenso stolz auf ihre Erlebnisse wie ihrer überdrüssig, bot sie Ulrich davon Kenntnis an, in der ängstlichen Hoffnung, er werde mit seinen Worten diese qualvolle Schönheit zerstören.
Ulrich sprach jedoch selten so zu ihr, wie sie es erwartete, sondern kühlte sie gewöhnlich spöttisch ab, denn obgleich ihm Gerda deshalb ihr Vertrauen verweigerte, wußte er gut, daß sie sich ihm gegenüber in einem dauernden Verlangen nach Ergebenheit befand und weder Hans noch sonst wer solche Macht über ihr Gemüt hatte, wie er sie hätte haben können. Er entschuldigte sich damit, daß jeder andere wirkliche Mann an seiner Stelle, nach dem unklaren Schmutzfink Hans auch als Erlösung auf sie wirken müßte. Aber während er alles das überlegte und mit einemmal versammelt gegenwärtig fühlte, hatte sich Hans besonnen und versuchte, noch einmal zum Angriff überzugehn. »Alles in allem« sagte er »haben Sie den größten Fehler begangen, den man überhaupt begehen kann, indem Sie versuchen, es in Begriffen auszudrücken, was einen Gedanken zuweilen um ein etwas über die Begriffe hebt; aber das ist wohl der Unterschied zwischen einem Herrn von der Gelehrsamkeit und uns. Erst muß man es leben lernen, und dann lernt man es vielleicht denken!« fügte er stolz hinzu, und als Ulrich lächelte, fuhr es wie der strafende Blitz aus ihm: »Jesus war mit zwölf Jahren sehend und hat nicht erst das Doktorat gemacht!«
Ulrich ließ sich dadurch, mit einem Verstoß gegen die Pflicht der Verschwiegenheit, dazu hinreißen, ihm einen Rat zu geben, der Kenntnisse verriet, in deren Besitz er nur durch Gerda gekommen sein konnte. Denn er entgegnete ihm: »Ich weiß nicht, warum Sie nicht, wenn Sie es leben wollen, damit bis zu Ende gehn. Ich würde Gerda in die Arme schließen, alle Bedenken meiner Vernunft entfernen und die Arme so lange geschlossen halten, bis unsere Körper entweder zu Asche zerfallen oder der Verwandlung des Sinns folgen und sich in sich selbst umkehren, wie wir uns das eben nicht vorstellen können!«
Hans, dem die Eifersucht einen Stich gab, sah nicht ihn, sondern Gerda an.
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