Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
das Gefühl, in dem Gassengewirr, durch das ihn seine Gedanken und Stimmungen so oft geführt hatten, jetzt auf dem Hauptplatz zu stehen, von dem alles ausläuft. Und er hatte von alledem ein wenig zu Bonadea gesagt, als Antwort auf die Frage, warum er nie das Nächstliegende tue. Sie verstand es wohl nicht, aber sie hatte entschieden einen großen Tag; sie dachte eine Weile nach, schob ihren Arm fester in den Ulrichs und antwortete zusammenfassend: »Im Traum denkst du doch auch nicht, sondern du erlebst irgendeine Geschichte!« Das war beinahe wahr. Er drückte ihr die Hand. Sie hatte plötzlich wieder Tränen in den Augen. Ganz langsam rannen sie ihr ins Gesicht, und von der in ihrem Salz gebadeten Haut stieg der unbezeichenbare Duft der Liebe auf. Ulrich atmete ihn ein und fühlte große Sehnsucht nach diesem Schlüpfrig-Schleirigen, nach Nachgeben und Vergessen. Aber er nahm sich zusammen und führte sie zärtlich zur Türe zurück. Er war in diesem Augenblick sicher, daß er noch etwas vor sich habe und es nicht in halben Neigungen vertändeln dürfe. »Du mußt jetzt fortgehn,« sagte er leise »und sei mir nicht böse, ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen können, ich habe jetzt viel mit mir selbst zu tun!«
Und das Wunder geschah, Bonadea setzte dem keinen Widerstand entgegen und sagte nichts Ärgerlich-Hoheitsvolles. Sie war nicht mehr eifersüchtig. Sie fühlte, daß sie eine Geschichte erlebe. Sie hätte ihn in ihre Arme hüllen mögen; ihr ahnte, man müsse ihn auf die Erde hinabziehn; sie hätte am liebsten ein schützendes Kreuz auf seiner Stirn gemacht, wie sie es bei ihren Kindern tat. Und das kam ihr so schön vor, daß es ihr nicht einfiel, darin ein Ende zu sehn. Sie setzte den Hut auf und küßte ihn, und dann küßte sie ihn noch einmal durch den Schleier, dessen Fäden davon heiß wie glühende Gitterstäbe wurden.
Mit Hilfe des Mädchens, das an der Tür gewacht und gelauscht hatte, gelang es, Bonadea unbemerkt verschwinden zu lassen, obgleich im Hause schon der allgemeine Aufbruch begonnen hatte. Ulrich drückte Rachel dafür ein größeres Geldgeschenk in die Hand und sagte einige lobende Worte über ihre Geistesgegenwart; Rachel war von beidem so begeistert, daß ihre Finger, ohne es zu merken, mit dem Geld die längste Zeit über auch seine Hand festhielten, bis er lachen mußte und die nun plötzlich von ihrem Blut Übergossene freundlich auf die Schulter klopfte.
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Die beiden Bäume des Lebens und die Forderung eines Generalsekretariats der Genauigkeit und Seele
ES WAREN an diesem Abend nicht mehr soviel Gäste im Hause Tuzzi gewesen wie früher, die Beteiligung an der Parallelaktion ließ nach, und die, welche gekommen waren, entfernten sich früher als sonst. Selbst das Erscheinen Sr. Erlaucht im letzten Augenblick – der übrigens einen besorgten, umwölkten Eindruck machte und schlechter Laune war, weil er bestürzende Nachrichten über die nationalistischen Umtriebe gegen sein Werk empfangen hatte – vermochte dieses Abbröckeln nicht aufzuhalten. Man zögerte einwenig, in der Erwartung, daß sein Kommen vielleicht besondere Neuigkeiten bedeute, aber als er nichts davon bemerken ließ und sich um die Anwesenden wenig kümmerte, verzogen sich auch die Letzten. Darum bemerkte Ulrich mit Schreck, als er wieder auftauchte, daß die Zimmer fast leer waren, und kurze Zeit danach befand sich der »engste Kreis« allein in den verlassenen Räumen, bloß durch Sektionschef Tuzzi erweitert, der inzwischen nach Hause gekommen war.
Se. Erlaucht wiederholte: »Man kann von einem achtundachtzigjährigen Friedensherrscher auch Symbol sagen; darin liegt ein großer Gedanke; aber man muß dem auch einen politischen Inhalt geben! Es ist ja ganz natürlich, daß sonst das Interesse nachläßt. Das heißt, was an mir liegt, sehen Sie, habe ich ja getan; die Deutschnationalen sind wütend wegen dem Wisnieczky, weil sie sagen, daß er ein Slawophile ist, und die Slawen sind auch wütend, weil sie sagen, daß er in seiner Ministerzeit ein Wolf im Schafspelz gewesen ist: aber daraus geht bloß hervor, daß er eine echt patriotische, über den Parteien stehende Persönlichkeit ist, und ich halt an ihm fest! Dagegen muß das jetzt auch raschestens nach der Kulturseite ergänzt werden, damit die Leute etwas Positives haben. Unsere Enquete in bezug auf die Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung kommt viel zu langsam vorwärts. Ein österreichisches Jahr oder ein
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