Der Mann schlaeft
kann ihr nur zustimmen. »Gehen wir jetzt zu meiner Lieblingsstelle?« fragt sie, vermutlich weil sie nicht weiß, wie sie ansonsten die Fotos aus der Hand bekommen soll, und ich löse mich vom Bett, dem einzig sicheren Platz auf dieser Welt.
Damals.
Vor vier Jahren.
Wir fuhren zurück, nach unserem Ausflug ans Ende des Sees, die Fenster offen, und feuchte Luft stand im Wagen. Was ich empfand, als ich den Mann von der Seite ansah, war nicht jene atemlose Geisteskrankheit, die wir normalerweise unter: Ich habe mich verliebt verstehen. Mein Gefühl war nicht flirrend, nicht aufgeregt, nicht lecken wollte es oder hecheln. Ich war satt. Zum ersten Mal seit Beginn meiner eigenen Geschichtsschreibung fehlte mir nichts. Der Mann merkte von den elementaren Erschütterungen meines bisherigen Lebens nichts, davon, dass ich offenbar die Verliebtheit übersprungen hatte, um gleich mit dem ganz Großen weiterzumachen. Er fuhr Auto, sah geradeaus und erzählte mir die Geschichte seines Hauses. Natürlich musste es eine Geschichte geben, einen Grund geben, dass er hier wohnte, in dieser Gegend, in die er so wenig passte wie ein tiefgefrorener Schinken in eine filigrane Handtasche. Das Haus hatte einer alten Dame gehört. Ich löste mich von der inneren Betrachtung meiner großen Liebe und hörte aufmerksamer zu, denn Geschichten über alte Damen mochte ich sehr gerne.
»Ich lernte die Dame durch unerhebliche Umstände kennen«, begann der Mann. »Sie wohnte in dem Haus, das jetzt mir gehört. Als ich sie das erste Mal besuchte, vermutlich um irgendetwas zu bringen, abzuholen oder zu reparieren, es gibt ja sonst wenig Gründe, eine ältere Dame zu besuchen, saß sie am Fenster in der Wohnstube und sah auf den See. Sie hattesich seit Tagen nicht bewegt und wirkte entsprechend. Ihre Haut schien aus gelblichem Pergament, und ihre Augen waren trüb, als trüge sie undurchsichtige Linsen. Sie saß da, weil ihr Mann vor einigen Tagen abgeholt worden war, von den Bestattern, und sie nicht wusste, wohin, und vor allem, wie sie sich noch bewegen sollte. Sie war gelähmt seit vielen Jahren, und ihr Mann hatte sie immer getragen. Vom Garten ins Haus, vom Haus ins Bett. Sie hatte Angst gehabt, was mit ihm geschehen würde, wenn sie stürbe, denn sie war schwach und fühlte sich nicht wohl. Jeden Tag freute sie sich zwar über ihr Erwachen, doch mit ihm kamen die Schmerzen und die trüben Augen und das schlechte Gehör. Eines Morgens war sie aufgewacht, und er hatte neben ihr gelegen wie all die fünfzig Jahre zuvor. Aber er war tot gewesen. Sie hatte sich nicht gerührt, bis nach drei Tagen der Postbote nach ihr sah. Ich kannte die Dame, sie war eine Bekannte meiner Eltern gewesen, und durch Zufall hatte ich sie, wie am Anfang erwähnt, kurz nach dem Tod ihres Mannes besucht. Und war bei ihr geblieben, weil ich das Gefühl hatte, dass unbedingt jemand bei ihr bleiben sollte. Ich hatte sie in den Garten getragen und wieder ins Haus und zu Bett, ein paar Tage lang, doch das wäre nicht das Richtige, sagte sie. ›Es ist sehr freundlich, dass Sie mich herumtragen, aber ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, es spielt doch eine größere Rolle, als ich dachte, wer einen trägt.‹ Die Dame weinte, ohne dass Tränen aus ihren Augen kamen, es war vermutlich nichts mehr in ihr, was die Kraft hatte, Tränen zu erzeugen, und sie bat mich, bei ihr zu bleiben, bis sie sterben würde. Das versprach ich ihr. Ich saß eine Woche an ihrem Bett, dann war es so weit. Selbst wenn einen nichts mehr am Leben hält, ist es doch kein Spaziergang,die Welt zu verlassen. Weder aß noch trank die alte Dame, sie lag in ihrem Bett, das ich frisch bezogen hatte. Sie schaute mit halbgeschlossenen Augen in die Sonne über dem See und sagte: ›Komisch, selbst der See ist nicht mehr schön, ohne ihn.‹ Und dann wurde ihr Atem immer leiser, und schließlich hörte ich ihn nicht mehr. Sie hat mir das Haus geschenkt, ich wusste nichts davon, die Nachricht bekam ich, als ich wieder daheim war. Die Gegend sagte mir nicht viel, und ich war auch nie ein übertriebener Anhänger vortrefflicher Aussichten. Aber ich dachte, es wäre angenehm, an einem Ort zu wohnen, wo zwei Menschen gelebt hatten, die so nett miteinander gewesen waren. Seitdem bin ich hier, und es vergeht kein Tag, ohne dass ich an die Dame denke. Vielleicht hat sie das gewollt, dass noch jemand an sie denkt.«
In der Nacht wachte ich immer wieder auf und überprüfte, ob der Mann noch atmete. Draußen war ein
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