Der Mann schlaeft
Ich verlor mich in der genauen Beobachtung der Umgebung, vielleicht, weil ich nicht wusste, was sonst zu tun sei. Mir war unklar, was ich bei dem Mann tat und hier in diesem furchtbaren Tessin, in das nach meinem Ermessen nur Rentner reisten, um die Erben von Stahlindustriellen in ihren absurd geschmacklosen Villen zu beneiden.
»Ich habe das Haus von einer Dame geerbt. Sie war wohl mit einem Stahlindustriellen verwandt«, sagte der Mann, und als ich etwas Nonchalantes erwidern wollte, hatte ich meine Stimme verloren.
Esoterikern würde sicher etwas dazu einfallen, ich neigte dazu, Dinge für das zu nehmen, was sie sind. Meine Stimme war weg, innerhalb der folgenden Stunde bekam ich Fieber, mein Hals schmerzte, und ich konnte noch nicht einmal flüstern. Alles um mich wurde unwichtig, mein Körper fraß die Reste meines Verstandes.
Der Mann brachte mich zu Bett, er hatte es frisch bezogen, was ich ihm hoch angerechnet hätte, wäre ich dazu in der Lage gewesen, von draußen kamen Hitze und die Sonne in nervösen Fetzen durch Palmen und Bananenstauden in den Raum.
In meinen Ohren rauschte ein hoher Ton, und ich fiel in angestrengten Schlaf. Als ich erwachte, hatte der Mann mir eine Suppe gemacht, deren Geschmack mir unbekannt war.Das nächste Mal erwachte ich in der Nacht, die mit dem Tag zusammenfloss – ich habe kaum mehr Erinnerungen an die Zeit der Krankheit. Ich lag eine Woche zu Bett, und der Mann las mir nicht vor und erzählte mir nichts aus seiner Kindheit. Er hatte nur Angst um mich und fütterte mich ständig mit Honig.
Er lag neben mir und schaute mich an, und wenn ich in der Nacht erwachte, lag er immer noch da und schaute.
Heute.
Morgen.
»Ich heiße Kim«, sagt das Mädchen, als wir das Haus des Masseurs erreichen. »Vielleicht ist es angemessener, dass Sie meinen Namen kennen, wenn ich Sie schon in merkwürdige Familiensituationen verwickle.«
Wir stehen lange unbeweglich, denn sich bewegen heißt, weitermachen mit diesem Leben, das so unerfreulich lang vor uns liegt und will, dass man sich verhält.
»Es ist nicht so einfach, ein Kind zu sein«, sagt Kim nach einer Weile. »Man muss bei jemandem wohnen und ist völlig abhängig von seinen Launen. Ob man will oder nicht. Haben Sie sich das schon einmal so überlegt?«
Ich muss zugeben, dass ich mir das lange nicht mehr überlegt habe. Das letzte Mal vielleicht, als ich selber ein Kind war, aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern. »Es ist auch nicht sehr viel angenehmer, erwachsen zu sein«, sage ich.
»Geht es denn schnell?« fragt Kim. Und leider kann ich ihr auch in dieser Hinsicht wenig Erfreuliches mitteilen. Erwachsen zu werden verbraucht die längste Zeit eines Lebens. Kind sein will man nicht, wegen der Sehnsucht nach etwas, das man noch nicht benennen kann, und wegen der fast drogensuchtgleichen Abhängigkeit von einem Erwachsenen, der einem liebevoll zugetan ist. Es gibt durchaus Kinder, deren Drogensucht befriedigt wird. Durch Nähe und ständige Berührungen. Aber wehe, wenn nicht! Dann wächst man mit dem Gefühl, ein unvollständiger, kranker Mensch zu sein.Und was man sich nicht alles vom Erwachsensein verspricht in jener Zeit. Dass dann alle Bedürfnisse keine mehr wären, weil man sie sich selber zu erfüllen in der Lage wäre. Ist man nicht. Man ist nur groß und weiß auch nicht weiter. Man sieht die Veränderung der Zellen, ein Krebsgeschwür vor dem Ausbruch, und man sehnt sich immer noch, und Erfüllung wird immer unwahrscheinlicher.
Kim sieht mich an, in ihrem Gesicht bewegt sich nichts, oder alles, ich kann es nicht lesen, weil mich ihre Augen verwirren und die Glätte der Haut, die wirkt, als könne man sie nicht zwischen die Finger nehmen und anheben.
»Vermutlich sollte ich mein Schicksal nicht überbewerten. Es scheint, als sei es eine Episode aus der Reihe normaler Unerfreulichkeiten, die am Ende ein Leben ausmachen.« Ich habe aufgehört, mich über die gestelzte Ausdrucksweise des Mädchens zu wundern.
»Ich muss jetzt rein und mich eventuellen Vorwürfen stellen. Ich schaffe das alleine. Wenn Sie mögen, können wir uns heute Nachmittag treffen, am Hafen. Ich könnte Ihnen meinen Lieblingsplatz zeigen«, fügt sie noch an und verschwindet im Haus.
Ich gehe langsam zu meiner Wohnung zurück. Mein Zeitplan, den ich seit Wochen streng eingehalten habe, ist durcheinandergekommen. Eine kleine Irritation, die mich ratlos werden lässt, auf meinem Bett zusammensinken, und da liege ich und versuche, meinen
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