Der Mann schlaeft
Reihenhaus zu sitzen und das Kind Freia zu nennen. So verschwanden wir in späten Liebesgeschichten, mit dem Ersten, der uns endlich einmal wollte, nichts Besonderes, nichts, um sich einen Orden umzuhängen. So einzigartig war ich wie drei Millionen anderer, die gerade im gleichen Moment neben jemandem liefen und sich dachten: Und darum hab ich immer so ein Aufhebens gemacht? Das ist ja völlig unspektakulär. Das ist ja nur ein Mensch, und es kommt darauf an, ihn atmen zu hören und keine Angst vor ihm zu haben.
Der Mann war neben mir, und ein Gefühl, als wäre er schon immer da gewesen, und würde er sich entfernen, entstünde eine unangenehme Leere. Es war ein Moment, der sich durch stille Perfektion auszeichnete. Die Temperatur, die Umgebung,die Freude, nicht alleine zu sein und dennoch unter keinem Druck zu stehen, machten ihn vollkommen. Ich wollte diesen Moment nicht verlassen, den See nicht und den Mann nicht. Und ich hatte zum ersten Mal keine Sorge, dass es ihm anders gehen könnte. Ich blieb stehen und sah ihn an und hatte mich nicht verliebt. Etwas anderes war eingetreten.
Heute.
Nachmittag.
»Hier sieht es aus, als ob es seit Jahren hereinregnen würde«, sagt das Mädchen, das vor einigen Minuten in meine Wohnung gekommen ist. Sie geht durch die verdunkelten Räume, mit ihren Augen sehe ich die schmutzige Wäsche am Boden, die leeren Instantbrei-Packungen in der Küche, das Bett, das ich mit Kleidungsstücken des Mannes in eine Höhle verwandelt habe, das schmutzige Geschirr, das Grauen.
»Es sieht aus wie so eine Messie-Wohnung«, sagt Kim. Ja, denke ich, so sieht’s wohl aus. »Wir sollten hier ein wenig Ordnung schaffen«, sagt Kim und beginnt damit, während ich auf dem Bett sitzen bleibe und ihre für mich völlig sinnlosen Aktivitäten beobachte. Sie füllt Müllbeutel, packt Wäsche in einen Sack, kehrt, wischt, reißt Fenster auf, aus denen ich augenblicklich hinausfallen möchte. Nach einer Stunde sieht die Wohnung aus wie eine Wohnung, die Kleider des Mannes auf dem Bett habe ich verteidigt, die dürfen nicht abhandenkommen, auf gar keinen Fall.
»Das ist mir nichts Unvertrautes, dass eine Erwachsene auf dem Bett sitzt und ich aufräume. Fast denke ich, dass es allen Kindern so geht. Die Erwachsenen sitzen still, und die Kinder versuchen alles, um das Leben in Schwung zu bringen. Darüber werden wir müde und alt und sitzen dann irgendwann genauso auf dem Bett wie unsere Eltern.« Zum ersten Mal seit Wochen wird mein Interesse von meiner Ratlosigkeit abgelenkt. Ich schaue das Mädchen an, das am Boden hockt unddie Fotos studiert, die ich im Zimmer aufgestellt habe. So seltsam beherrscht und zu früh erwachsen wird man nur, wenn einen die Einsamkeit dazu zwingt. So viel habe ich verstanden. Anders als diejenigen, die erwachsen spielen, in Stereotypen reden, sich kleiden und verhalten, die infantil geblieben sind hinter all ihren Maskeraden, gibt es auch Menschen wie dieses Mädchen. Es scheint, als ob sie im Schatten gewachsen seien, die Last der Welt auf ihren Schultern, und das Einzige, was sie davon abhält, zusammenzubrechen und zu weinen, bis sie daran ersticken, ist ihre Disziplin, die ihnen sagt, bewege dich, mach weiter, mach weiter, vielleicht kannst du irgendwann glücklich sein, wenn du dich nur genug anstrengst.
Das Mädchen studiert immer noch die Fotos, auf denen der Mann zu sehen ist, ihr Feingefühl verbietet ihr jede Frage, der Körper ist angespannt, vermutlich meint sie, dem Geheimnis meiner Trauer auf der Spur zu sein, und wenn traurige Menschen sich für etwas interessieren, dann für andere, die sie für noch unglücklicher halten.
Sie steht auf und sieht sich meine Bücher an, die seit Wochen unberührt in einer Ecke liegen. »Sie mögen wohl auch keine einfachen Geschichten«, fragt mich Kim und hält das Buch eines rauschgiftabhängigen englischen Autors hoch. Es erstaunt mich, dass sie ihn offenbar kennt, denn bei allem Respekt scheint mir die Lektüre für ein Kind doch recht anspruchsvoll. Gerade will ich eine Erwachsenenbemerkung machen, da fällt mir rechtzeitig ein, dass ich als Kind auch Bücher gelesen habe, die nicht für Kinder gedacht sind, und vor allem, dass ich mich nicht als Kind begriffen habe, daran erinnere ich mich plötzlich.
»Ich hasse diese Geschichten und die Charaktere, die bis ins Kleinste ausgeschmückt werden, die Familiensagas und Tapetenbeschreibungen. Wenn ich Realität will, dann muss ich doch nicht lesen«, sagt Kim. Und ich
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