Der Mann schlaeft
darauf gewartet, hielt mir der Mann einen wirr anmutenden Vortrag über den Weltuntergang und die Pflicht eines jeden denkenden Menschen, Vorsorge zu treffen und eine Art Nautilus zu bauen, in der man durch den Tsunami würde tauchen können, der drauf und dran war, die Welt leerzufegen.
Das ist, zusammengefasst, der Inhalt des viertelstündigenVortrags. Und der Beginn unserer Bekanntschaft. Ich sollte den Zwerg noch öfter treffen, als mir lieb war. Doch das wusste ich damals nicht, als ich erfreut über die seltsame neue Bekanntschaft wieder nach Hause fuhr, um noch oft zurückzukommen. Auf die Insel. Und zu dem seltsamen Ufoboot.
Heute.
Nachmittag.
Mit einer wirren Ausrede verabschiede ich das Mädchen und fliehe in meine Wohnung.
Ich kann doch nicht so tun, als sei ich ein starker Mensch, der nach drei Monaten der Verwirrung zurück in sein Leben findet. Irgendein stummes Es muss ja-Lied im Kopf und Trauer ist Trauer und Schnaps ist Schnaps. Ich kann nicht zu den Lebenden, sie machen mir Angst. Ich ahne, was kommen würde: Das kleine Mädchen würde mir mit ihrer Weisheit den Weg zurück ins Leben zeigen, wir würden irgendwann zusammen lachen, meine Haare würde ich wie ein junges Fohlen in den Wind werfen und in ein neues Leben traben, in dem ich eine einfache, aber erfüllte Dame unbestimmten Alters wäre, die Tonzeug töpfert, karitativ tätig ist und sehr viele Freunde aus der Volkstanzgruppe hat. Ich will diese letzten dreißig Jahre nicht. Nicht so, nicht allein. Nicht ohne berührt zu werden, nicht ohne einen Mann mit Bauch, auf dem ich mich einrollen kann. Ich werde nicht mit Kim schwimmen gehen, nicht zurück in den Irrsinn, der heißen würde: Alles kann dir genommen werden, dauernd. Wenn du dich wohl fühlst, wenn du vergisst, dass Leben Demütigung heißt, gerade dann kommt es und schlägt zu, der Tod, das Schicksal, Gott, das Böse; mit unglaublicher Gleichgültigkeit überrollt es deinen Mann mit der Tram, lässt es dein Kind an einem kleinen miesen Bakterium verrecken. Nichts ist für dich,nichts für dich so, wie du es dir vorgestellt hattest. Und das werden wir dir zeigen.
Die Wohnung ist zu hell, zu sauber, die Fenster aufgerissen, zu viel Luft und Geräusche. Nachdem ich alles wieder verdunkelt habe, weiß ich nicht weiter. Mein Tagesablauf ist durcheinandergekommen. Doch ich habe die wundervolle Heilkraft des Baldrians entdeckt. Füllt man ein halbes Glas mit Tinktur und verdünnt es mit Wasser, dann versinkt man innerhalb von Sekunden in eine Betäubung, die sich gewaschen hat, und ein paar Minuten später in einen traumlosen, todesähnlichen Schlaf. Ich trinke meinen Baldrian. Ich vergesse Kim. Ich sehe den Mann, wie er mich anlächelt, baue mir ein Nest in seinen Bauch, und niemand kann mich da mehr erreichen.
Damals.
Vor weniger als dreieinhalb Jahren.
Meine Ausflüge zur Brissagoinsel waren rar geworden, da die Momente, in denen ich hilflos zusehen musste, wie ich meinen Verstand verlor, und das Bedürfnis zur Flucht irgendwann ausgeblieben waren.
Ab und zu besuchte ich die Insel, ausschließlich um den Zwerg zu sehen. Nicht weil ich ihn besonders mochte oder mich wohl mit ihm fühlte, sondern einzig, weil ich nicht den Anschein erwecken wollte, ich miede ihn. Was der Wahrheit entsprochen hätte. Es war mir im Umgang mit dem kleinen Mann, der auf Zwanzig-Zentimeter-Beinen durch die absurde Perfektion der Brissagogärten wackelte, nie gelungen, über seine Körperlichkeit hinwegzusehen.
Das letzte Mal, als ich ihn auf der Insel traf, war ein bleifarbener Tag. Wir saßen im Pavillon vor dem Ufo-Nemo-Rosthaufen, und ohne die Verzweiflung, die meine früheren Besuche bei ihm begleitet hatte, blieb nur eine große Fremdheit zwischen uns. In der saßen wir schweigend, lange, nachdem ich ihn gefragt hatte, wie er auf die Insel gekommen war, irgendwann.
»Ich war nie in den Genuss gekommen, meine leiblichen Eltern kennenzulernen«, begann er nach einer Viertelstunde, in deren Dauer ich glaubte, ich wäre dem Mann mit meiner Frage zu nahe getreten.
»Ich wuchs bei einem Ehepaar auf, das mich zurückgeben wollte, als meine Behinderung offensichtlich wurde. Aber dahatten sie mich bereits adoptiert. Sie zogen in ein abgelegenes Haus, weil sie sich schämten, mit mir in Verbindung gebracht zu werden. Der Mann war Angehöriger der Luftstreitwaffe, seine Gattin eine zur Hysterie neigende Fremdsprachenkorrespondentin, beide im Ruhestand. Die Frau trug fast ausschließlich Twinsets, die ich in
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