Der Mann schlaeft
muss ich doch ein wenig nachdenken, doch vermutlich hat das Mädchen recht.
Mein Lieblingsplatz war unter dem Hemd des Mannes, nichts sehen, nichts denken müssen, meine Füße auf seinen, er läuft und ich laufe mit. Die Abwesenheit seiner Wärme erzeugt keine Kälte, sondern Starre, durch die das Mädchen zu dringen versucht, damit etwas passiert, sie vielleicht irgendwann elegant aufstehen und sich verabschieden kann.
»Als ich heute nach Hause kam, saß mein Großvater am Fenster«, erzählt Kim und tut genau das Richtige, denn ich vergesse mich und höre ihr zu, und sie klingt, als säße ich unter der Wasseroberfläche. »Also, als ich den Raum betrat«, fährt sie fort, »merkte ich der Haltung meines Großvaters an, dass er die ganze Nacht dort gesessen haben musste, um auf mich zu warten. Er stand auf und ging aus dem Raum. Er fragte mich nichts, er umarmte mich nicht mit solchen: Gott! Kind! Was-habe-ich-mir-für-Sorgen-gemacht-Sprüchen. Er kochte mir keinen Tee. Nichts. Er verließ den Raum, ohne mich anzusehen. Als ich später zur Schule musste, war er schon dabei,einen dicken Mann zu massieren. Er sagte wieder nichts, zeigte nur auf ein wenig Geld, das er mir bereitgelegt hatte, damit ich mir eine Suppe kaufen konnte, in der Schule. Das Gute an der Situation ist, dass ich meinen Großvater nicht enttäuschen kann, weil er es bereits ist. Es ist seine Haltung dem Leben gegenüber. Vielleicht ist er so geworden, vielleicht so geboren, da kenne ich mich noch nicht genug aus.«
»Was machst du jetzt?« Meine Stimme kommt von weit her, gehört nicht mir, und natürlich interessiert mich die Antwort des Mädchens nur bedingt, und das merkt sie. Sie sieht mich sehr klar an, und es ist uns beiden bewusst, dass wir eine Pseudokommunikation führen, so wie Erwachsene auf Stehpartys. Das Mädchen scheint schon sehr gut in der Kunst, sich zu verstellen und sich nicht über Gebühr ernst zu nehmen.
»Ich werde warten«, sagt sie. »Meine Tage vergehen mit Wachsen, Lernen, Essen, Schlafen. Vielleicht ist es ganz gut für meine Zukunft, wenn ich nicht durch emotionale Kinderdinge vom Lernen abgehalten werde. Ich kann dann eine gut ausgebildete Person werden, die später mal einem Labor vorsteht, in dem wir etwas entwickeln, was Menschen zu freundlicheren Wesen macht.«
Uns gegenüber sitzt ein großer grauer Vogel in einem bemoosten, abgestorbenen Baum. Er sieht uns nachdenklich an und öffnet seinen Mund zu einem großen Gähnen. »So, jetzt gehen wir schwimmen, das ist gut für den Körper«, entscheidet Kim und steht mit einer großen Entschlossenheit auf. Vermutlich ist es ihr unangenehm, mit ihrem Lieblingsplatz negative Gefühle bei mir ausgelöst zu haben. Und mir ist peinlich, dass ich mich gehenließ. Doch das mache ich jetzt bereits seit Wochen.
Damals.
Vor dreieinhalb Jahren.
Eine Freundin, die vielleicht die vernünftigste Person war, die mit mir verkehren wollte, hatte mir gesagt, dass die Herausforderung im Zusammenleben mit einem Menschen, den man liebte, darin bestand, durchzuhalten. Die ersten ein, zwei Jahre seien eine Zumutung, mit all den Missverständnissen, dem unmöglichen Verhalten, der falschen Lautstärke und der Angst. Die interessante, weil entspannte Zeit begänne erst nach der Zeit der Verwirrung, sofern man die übersteht. Nachdem meine Aggressionen so plötzlich verschwunden waren, wie sie begonnen hatten, folgte eine Phase von Fremdheit, die mich verwirrte. Der Ort, das Haus, das Wetter, die Insekten, der See waren fern davon, ein Heimatgefühl in mir herzustellen, und auch der Mann war mir völlig unvertraut, ich wusste nichts von seinem Leben, von den Frauen, die vor mir in seinem Bett gelegen, an seiner Seite aufgewacht und auf seinem Körper eingeschlafen waren. Wellen von Eifersucht ließen mich stumm werden und hilflos. Meist löste sich die Verkrampfung, wenn ich für eine Weile im Internet Filme ansah, in denen Frauen im Moor versanken, eine interessante Fetischspezialisierung, oder spazieren ging.
Wie oft hatte ich mir gedacht, eines Morgens würde mir der schnelle Verlauf meines Lebens einen solchen Schreck einjagen, dass ich, ohne mich umzudrehen, meine Wohnung und mein Leben verlassen würde. Leider reichte meine Phantasie nie dazu aus, mir vorzustellen, was an einem anderenOrt besser werden sollte. Ich hatte zu viele Städte bereist, um zu wissen, dass die meisten Plätze auf der Welt, mit Ausnahme einiger überteuerter Touristenorte, ziemlich unattraktiv waren.
Weitere Kostenlose Bücher