Der Mann schlaeft
zog mir noch ein paar Socken an, denn die alten Steinböden hatten die Kälte gepachtet.
Kalt war mir, und doch war ich in einer so ruhigen Art zufrieden mit meinem Leben, dass ich mir, außer vielleicht einer besseren Heizung, nichts wünschte.
Ich fand die kleine Insel mittags gegen zwei. Sie sah perfekt aus, im Meer vor Hongkong schwimmend, eine Mischung aus Kalifornien und etwas unbestimmt Asiatischem. Angenehme Temperaturen, wenig Touristen. Ich buchte Flüge, fand ein Appartement und hoffte, dass der Mann zufrieden mit meiner Entscheidung sein mochte, doch er war ein kluger Mann und mit fast all meinen Entscheidungen zufrieden, vermutlich, um seine Ruhe zu haben.
Ich wickelte mich wieder in eine Decke und richtete den Heizstrahler auf mich. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich nicht schlecht erstaunt, dass nur mehr einige verkohlte Knochen von mir übrig waren.
Nach einigen Stunden kam der Mann von seiner Arbeit, er roch nach feuchtem Holz.
Es ist nicht egal, was Menschen tun, denn sie haben es sich ausgesucht, und wer freiwillig Kommunikationsdesign studiert oder in Hedgefonds macht, wer Kunsthandwerker ist oder mit Überzeugung Meditationslehrer, war nicht dazu angetan, von mir mit Wohlgefallen betrachtet zu werden.
Auf der rutschigen Straße des Respekts auszugleiten war ein Leichtes. Ich hatte nie etwas gegen Männer einzuwenden gehabt, die lieber Marihuana rauchen und Kisten in Supermärkten stapeln, doch wenn sie offenkundig unsinnigen Beschäftigungen nachgingen und darauf stolz waren, hieß es für mich, den Hut zu nehmen. Der Mann bearbeitete Holzbretter und Bäume, und dazu gab es nichts zu sagen. Es war von ähnlich langweiliger Freundlichkeit wie mein Erstellen von Gebrauchsanweisungen.
»Lass uns verwegen sein«, sagte der Mann, der auf meine Füße sah, auf die zwei Paar Socken, »wir fahren nach Mailand.«Verwegenheit war eine Charaktereigenschaft, die uns normalerweise sehr fern lag, der Wahrheit ins Auge sehen, würde man es nennen, das friedliche Schlendern durch vertraute Gebiete. Zu sehr nach seniler Bettflucht schienen mir die hektischen Unternehmungen älterer Paare, die kurz vor der Pensionierung das hektische Mountainbiken entdecken, zu Salsa-Kursen gehen und Abenteuerurlaube auf dem Amazonas verbringen. Verzweifelte Versuche, das Adrenalin der Jugend durch die alten Adern zu jagen. Keine Träne des Bedauerns, wenn Personen unseres Alters, die nicht begriffen haben, dass Geschwindigkeit das Leben nicht verlängert, auf unbekannten Flüssen kentern und von Piranhas verzehrt werden.
Nun war eine Fahrt in das eine Stunde von unserem Wohnort entfernte Mailand nicht mit einer Wüstensafari zu vergleichen, und den Tag zu irgendeinem Höhepunkt zu treiben kein dummes Unterfangen.
Wir saßen durchfroren im Auto, die Heizung auf achtzig Grad gedreht, die Fenster beschlagen, draußen vernebelte Umgebung. Ein Regen ging nieder, der die Bezeichnung nicht verdiente. Das behinderte Regenkind, es stand wie Nass im Himmel, keine Tropfen, ein feiner Film aus Feuchtigkeit, in den ich starrte und mich erinnerte. Es war ein ähnlicher Tag gewesen, als wir vor zwei Jahren in dem Heimatort des Mannes gewesen waren. Ich wollte sehen, was er meinte, wenn er von seiner unerheblichen Kindheit sprach.
Ein Dorf im Osten, das erbärmlich im Regen gelegen war. Die Frauen waren verschwunden, und nur ein paar alte Männer saßen in der einzigen Kneipe und warteten auf ihr Ende. Der Vater des Mannes war gestorben, vermutlich an einerdurch Alkohol verunstalteten Leber. Er hatte, soweit der Mann sich erinnerte, von einer Invalidenrente gelebt, seine Frau, des Mannes Mutter, war in den Westen geflohen und hatte den Säufermann und das fünfjährige Kind zurückgelassen. Der Mann sagte: »Ich hatte keine so schlechte Kindheit.« Er kniff die Augen ein wenig zusammen, und ich wusste, sehr viel schlechter kann eine Kindheit nur sein, wenn man sie nicht überlebt. Er wurde geschlagen, spielte im Hof des heruntergekommenen Hauses, das er mir zeigte und das mich ganz trostlos werden ließ. Die alte Schule, der Dorfkonsum, die völlige Abwesenheit jeder Kultur, ein Ort, der wie in einer mit Algen bewachsenen Flasche durch die Meere schwimmt und von niemandem gefunden werden will. Es machte mich ihn verstehen, ohne dass ich es intellektuell hätte begründen können. Seine Verlorenheit und Schweigsamkeit und dass er oft wirkte, als ob er seit der Zeit als Kind optisch kaum eine große Veränderung erfahren
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