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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sibylle Berg
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dann wird der Frühling begonnen haben. Das Leben erschien mir damals als Dauerliegen in einer Badewanne. Wir gingen durch das leere Mailand zurück ins Hotel, der Regen war kaum mehr zu spüren, irgendwo eine Glocke.

Heute.
Nachmittag.
    Seit zwei Stunden liege ich auf dem Bett und sehe in einen Schlingpflanzenbaum, der langsam immer näher rückt, gleich wird er sich über mein Gebein hermachen, wird mich umschlingen und einverleiben. Man kennt diese unangenehme Eigenschaft der Hongkonger Bäume.
    Am Boden kauert Kim und macht Hausaufgaben. Ihr Atem beruhigt mich.
    Er klingt nicht chinesisch.
    In meinem Alter hat man auf unvertrauten Kontinenten dauerhaft nichts mehr zu suchen. Sehe ich von dem Umstand ab, dass mein Lebenswille auf einer Skala von null bis hundert gegen null geht, ist auch meine Neugier derart abgenutzt, dass ich an fremden Orten nur mehr nach Bekanntem Ausschau halte. Davon gibt es hier, außer chinesischen Restaurants, kaum etwas, und im Moment vermisse ich alte Gewohnheiten schmerzhaft.
    Zu Hause ist Winter, und ich sehne mich nach Kälte, Rauhreif und Glockenlärm. Früher gab es für mich nichts Elenderes als den Angriff der Christen am Wochenende, der bemitleidenswerte Versuch der Bevormundung einer machtlos gewordenen Sekte, deren Mitglieder stundenlang verzweifelt an Glocken hingen und lärmten, bis alle Ungläubigen aus den Betten gefallen waren und Gott um Ruhe anflehten. Jetzt vermisse ich die Glocken, ich könnte durch den Schnee zu einer Kirche stapfen, und ein Happy Christ würde mich, weil er seinenNächsten liebt, in die Arme schließen. Er würde nach Weihrauch riechen, der Christ und seine Haushälterin hätten Rührkuchen gebacken, den könnten wir in der Amtsstube des Christen essen, in einem Stück äßen wir das verdammte Ding, ohne abzusetzen, ich würde weinen, vielleicht sieben Stunden lang, und er würde das ertragen, weil es seine gottverdammte Pflicht wäre. Danach würde er mir Bibelsprüche vorlesen, und vielleicht fiele es mir dann leichter, mich in Luft aufzulösen. Ohne großes Theater. Teil des Himmels werden und keine Absichten mehr.
    Das Kind, das in seine Rechenaufgabe versunken am Boden kauert, glüht und wackelt, hat alles vergessen, was sich außerhalb seiner selbst befindet. Ich kenne das Gefühl und hatte geglaubt, dass es erst enden wollte, wenn ich neben dem Mann in einem Grab läge, mit Blumensträußen in den Knochenhändchen.
    Lies mir etwas vor, bitte ich Kim, um die Händchen aus dem Kopf zu bekommen, und ohne mich zu beachten, liest sie aus ihrem Mathematikbuch. Ihre leise Stimme beruhigt mich, fast will ich einschlafen, da bemerke ich den Masseur, der verlegen in der Tür steht. »Wollen wir vielleicht zusammen einen Ausflug machen?« fragt er so leise, dass mir nicht ganz klar ist, ob ich es mir wieder nur eingebildet habe. Kim und ihr Großvater sehen mich an, es war wohl doch ein Vorschlag, und ich erwäge, mich augenblicklich totzustellen. Ausflüge waren mir schon immer ebenso unangenehm, wie mich mit fremden Menschen nackt in einer Sauna zu tummeln.
    Kim flüstert: »Ich glaube, er ist im Wahn.« Und ich ahne, dass sie sich nichts mehr wünscht als Normalität. Eine Familie, auch wenn es nur eine geborgte ist, einen Ausflug. Ichmerke, dass sie zum ersten Mal so alt wirkt, wie sie ist, als sie aufspringt und zur Tür wedelt, sich fast überschlägt, vor Eifer schwitzt und nur mehr will, dass es immer so bleibt. Mit mir und dem Großvater und Ausflügen an sonnigen Tagen.
    Wer bin ich, in meiner öden Trauer, ihr Freude zu verwehren?
    Auf dem Weg zur Fähre nehme ich den Masseur zum ersten Mal in den vergangenen Tagen als Person wahr und nicht als schweigsamen Anhang eines frühreifen Mädchens, das mich auch nichts angeht. Der Masseur trägt Kleidung, die ich noch nie an ihm gesehen habe. Eine Art leichter Sommeranzug, der ihn wie einen asiatischen Forscher wirken lässt. Er ist so alt wie wir alle, in verschwommenen Jahren, massig, ohne dick zu sein, der Schädel doppelt so groß wie meiner und seine Augen merkwürdig rund für einen Mann chinesischer Herkunft.
    Wir sitzen schweigend auf der Fähre. Auch wenn wir einen Ausflug machen, heißt es nicht, dass wir plötzlich das ausgelassene Ballspielen beginnen.
    Auf dem Bild eines Magnum-Fotografen sähen wir sicher großartig aus, wie wir in verschiedene Richtungen schauen, bedacht darauf, nichts zu sagen, das uns klarmachen könnte, wie wenig uns verbindet. Ein alter Chinese mit von Trauer

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