Der Mann schlaeft
werden, denn mein Hass der Welt gegenüber ist der Welt egal«, oder: »Ich werde immer mit mir zusammensein, besser, ich versöhne mich mit mir.« Man vermeint, das Leben ändere sich, und möchte, dass alle an dieser Freude teilhaben. Ausgelassen wie ein Fohlen tollt man durch die Gegend, um allen seine Erkenntnis mitzuteilen, um sie zu erlösen, zu erleuchten, diese kurze Verwirrung ist mir in meiner Erinnerung sehr nah, und ich begegne dem Masseur darum mit aller Güte, die aufzubringen ich momentan in der Lage bin.
Der schaut weiter auf die Sonne. »Ich habe es so satt, der Masseur zu sein. Immer männlich und schweigsam, stark und unnahbar. Ich laufe mit diesen schwarzen Gewändern herum und schaue so, als ob ständig große Gedanken in mir wären. Ich grüße die Menschen huldvoll und verziehe mich gemessenenSchrittes. Ich habe es so satt, mich zu spielen. Ich möchte manchmal hinfallen, liegen bleiben und allen, die es wissen wollen, sagen: ›Da ist nichts in meinem Kopf, absolut nichts.‹ Ich langweile mich zu Tode, und ich massiere nicht, weil ich das Chi zum Fließen bringen will, sondern weil es mir Geld bringt.«
Ich bin mir nicht sicher, ob er die vorangegangenen Sätze gesagt hat oder ob sie nur in meinem Kopf stattgefunden haben. Wir gehen zurück in die Wohnung, und ich bin doch erstaunt über den Grad an Ausgelassenheit, den der Masseur an den Tag legt. Vom schweigenden Greis zu einem fast schon verstörend geselligen Kameraden, der laut denkt, scheint mir eine rasante Entwicklung. Ich bin gespannt, was seine überbordend gute Laune noch an Ideen zum Vorschein bringen wird.
Damals.
Vor einem halben Jahr.
Es würde bald wieder Winter sein. Draußen roch es sanft nach Kälte, der Boden war feucht, und über dem See hingen Laken aus grauem Tuch. Es würde bald wieder Winter sein, und zum ersten Mal, seit ich bei dem Mann wohnte, nahm ich den Wechsel der Jahreszeiten wahr und dachte mit Ekel an die bevorstehenden Feiertage. Weihnachten im Tessin bedeutet: Leere Häuser, geschlossene Läden und mit Brettern vernagelte Restaurants. Ein paar Alte würden im Nebel über die Piazza kriechen, der eine oder andere würde ausgleiten und ohne großes Aufheben in den See fallen. Drei Wochen würde das Leben sein, als hätte man sein Zelt auf einem Friedhof aufgeschlagen.
Der Mann lag noch im Bett, in keinem klaren Zustand, es war heiß unter der Decke und zugleich klamm. Ich korrigierte mein Bild, es war kein Friedhof, im Winter gleicht das Tessin einer geschändeten Familiengruft. Noch nicht einmal die Leichen haben sie zurückgelassen, nur feuchtes Gemäuer und der Geruch nach altem Laub und abbröckelnden Wänden. Die Kälte kroch durch die schlecht isolierten Mauern; verließ man später das Bett, saß man direkt vor dem elektrischen Heizkörper, der einem Füße und Gesicht verbrannte, während der Rücken einfror, sodass man um die Gesundheit seiner Wirbelsäle fürchten musste, wenn man sich erhob.
Mit zwei Paar Socken und Kaffee stand ich vor dem Haus und schaute den grauen See an und die Inseln, die einfach nurHaufen waren, verschwommene, die man nicht näher untersuchen wollte. Es war mir unverständlich, wie irgendjemand nicht wenigstens einmal am Tag sein Ende betrauern konnte. Die kalte klare Luft, die nach Laub roch und Feuer, nach See und Moder, und denken: Das wirst du nicht mehr riechen können, bald. Nicht wieder ins Bett kriechen, den Mann umarmen, mich in ihn pressen, tragen lassen, nicht mehr frieren, keine Angst haben und nicht denken, was werden würde, wenn er nicht mehr da ist und ich allein in diesem Haus darauf wartete, dass es Frühling wird, und wüsste, es würde keiner kommen, um mich zu besuchen, selbst die Irre, die sich in einem Anfall von übersteigertem Mittelpunktinteresse die Hand abgehackt hat und nun in einer Nervenklinik wohnt, würde nicht mehr kommen.
Dann ging der Mann, und ich versuchte das Haus warm zu bekommen, ich molk die Kühe, was ohne Kühe natürlich kompletter Unsinn war. Ich versuchte zu arbeiten, und es gelang mir unzureichend, weil ich nach Reisezielen suchte. Fluchtorte, an denen es garantiert kein Weihnachten gab. Keinen Friedhof, keine roten Cola-Laster und keine Weihnachtsmänner, die an Hauswänden herumkletterten, und bitte keine Rentiere mit knubbligen Nasen. Es war ein Tag, der mich vom Morgen an irritiert hatte durch sein nicht vorhandenes Licht, ich überlegte mir, dass es eine hohe Kunst wäre, Bärendarsteller ohne Kostüm zu sein, ich
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