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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sibylle Berg
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Feuerwerk guter Laune entwickeln.
    Wir finden das Restaurant, irgendeine indische Geschichte, ein stickiger kleiner Raum mit schiefem Boden, und die Vorstellung, dass der Masseur vielleicht seit Jahren davon geträumt hat, noch einmal in seinem Leben in diesem Dreckhaufen von Restaurant zu sitzen, nur weil die Hormone, als seine Frau sich neben ihm befunden hatte, ihn belogen und ihm das Gefühl gegeben hatten, sich in einem Loireschloss aufzuhalten, ist zu viel. Zum letzten Mal habe ich mit siebzehn Alkohol getrunken, mit achtzehn habe ich es eingestellt, weil mir der Zustand nicht behagte, dieses schwere Dämmern, dieses Sich beim Reden Zuhören und Blödwerden. Aber Millionen Russen vertrauen ihr Elend dem Alkohol an, können sie wirklich irren?
    Ich höre mich Wein bestellen. Ich sehe bedauernd Kim an, ich habe nicht die Kraft, ihr einen schönen Abend zu schenken. Der Wein kommt, und vielleicht wird der Abend jetzt doch noch eine außerordentliche Überraschung.

Damals.
Im Winter. Vor vier Monaten.
Noch mal, langsam.
    In den kommenden drei Monaten würde kaum eine Lichtveränderung während der Tageszeiten stattfinden.
    Nebel lag auf der Stadt, die noch nicht einmal eine Stadt war, und der Mensch hielt Winterschlaf. Die es sich leisten konnten, verließen ihre Häuser nicht, sie schlurften in Pyjamas herum, Speisereste im Haar, leere Pizzaschachteln unter dem Bett, und Spinnen mit neurotischen Gesichtern spannen ihre Netze zwischen den Läufen der Personen.
    Die anderen, die Verlierer, die Hausverlasser, die man auf öffentlichem Gelände sah, waren kaum dazu geeignet, einen mit kleinen, fröhlichen Sprüngen das Leben feiern zu lassen.
    Ich war auf der Straße, sah Wintergesichter in schwarzen Kapuzen versunken und fühlte mich für einen Moment, als sei ich wieder eine von ihnen, die doch so warteten, dass etwas eintritt, durch das sie sich endlich wieder lebendig fühlten.
    Ich erinnerte mich an jenem Morgen so stark an das Gefühl, bei absurdem Wetter alleine zu sein, dass mir übel wurde, für Sekunden, in denen ich aus der Wirklichkeit gefallen war. Ich wollte eine Zeitung kaufen und überquerte die erstarrte Piazza, die von missmutigen, beschnittenen Platanen gesäumt war, und erschrak, denn ich meinte, in einem der wenigen Cafés, die im Winter geöffnet hatten, fast außerhalb meines Blickfeldes, die merkwürdige Bekannte mit einerArmprothese und, ihr gegenübersitzend, den unsichtbaren Mann aus dem Zug gesehen zu haben.
    Ich trat näher an das Fenster des Cafés und versuchte herauszufinden, ob ich verrückt würde, doch ohne Zweifel handelte es sich um die Bekannte, die ich in einer Anstalt glaubte. Bei dem Mann ihr gegenüber war ich mir nicht sicher, denn er sah aus wie fast alle Männer, die am Morgen in Zügen sitzen, überall auf der Welt, die Sklaven unserer Zeit, die nicht mehr Arbeiter heißen, sondern Angestellte, und die müde und traurig in Büros fahren, um auf ihre Entlassung zu warten, und für deren Wohl noch nicht einmal mehr Studenten kämpfen wollen.
    Mein Blick war glasig geworden, die Augen tränten von der feuchten Kälte, und als ich meinen Blick wieder scharf stellte, waren die beiden verschwunden.
    Noch heute ist mir nicht klar, ob ich mir die Begebenheit eingebildet habe.
    An jenem Tag jedoch war ich mir sicher, dass die beiden sich in meiner Umgebung eingefunden hatten, um mir Ärger zu bereiten.
    Daheim überkam mich eine große Traurigkeit.
    Wie immer, wenn mir eine Reise bevorstand.
    Das Haus in seiner feuchten Kälte erschien mir perfekt. Wie bezaubernd der See unter Dunst lag, wie angenehm es war, sich gemeinsam mit mehreren Decken vor dem Fernseher aufzuhalten, und wie wir im eigenen Garten über nasses Laub schlieren konnten, wenn uns danach verlangte. Seit Tagen bewegte ich mich mit den größten Verspannungen, aus denen sich allmählich eine Depression entwickelte. Ich träumte von Flugzeugen, die trotz aller Bemühungen nicht an Höhe gewannen,von kleinen Hundebabys, die in kochendes Wasser geworfen wurden, um ausgestopfte Hunde daraus zu erzeugen, von Krähen, die auf der Terrasse saßen und mit den Tatzen trommelten, kurz: Es schien kein Moment passender, die Reise abzusagen.
    Der Mann begegnete meinen inneren Verkrümmungen hilflos, aber nicht uninteressiert, er versuchte nicht, meine Angst in männlicher Art pragmatisch abzuhandeln. »Weißt du, wie groß die Chance ist, mit dem Flugzeug abzustürzen?« war zum Beispiel etwas, was ich nie von ihm hören

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