Der Mann von Anti
oder eure Theorie, machst du denn nun wirklich für das Unglück verantwortlich? Du weißt, ich bin gegenüber dieser Theorie der psychischen Entropie mehr als skeptisch. Ich glaube aber auch an zwei Gründe. Erstens: die Disharmonien zwischen Maren und Lars. Zweitens: die Gefährdung der Persönlichkeit durch den Schlüpfvorgang beim Zeitreisen. Ich glaube nämlich, daß diese achtzehn, diese berühmten achtzehn Kennziffern in Wirklichkeit gar keine totale Identität mit der Vergangenheitsperson garantieren. Vielleicht bleibt da ein Rest, und der könnte sich auf die Psyche des Zurückgekehrten auswirken. Aber du hast recht, wir wollten ja nicht wieder davon anfangen… Ist denn nun Torsten und Ute durch die Aufdeckung der Vergangenheit geholfen?«
Immerhin, Torsten verstand jetzt mehr. Aber Ute reagierte fast nicht – wieder nicht. Im stillen hatte ich gehofft, daß diese Form der Aufdeckung den unheilvollen Prozeß der Auszehrung stoppen könnte. Das Körpergewicht von Ute und Torsten nahm weiter ab. Ihre Träume rissen sie in die Vergangenheit, in Maren und Lars. Nur ihre Träume? Sie hatten jetzt schon am helllichten Tag Halluzinationen! Es war, als ob sie uns langsam, aber unwiderruflich entglitten.
Ja, ja, ich stritt mich mit Anne. Sagte, ihr Plan sei Irrsinn. Aber längst beschäftigte er mich ernsthaft. Was wußten wir… Es gab das stereotype »So und nicht anders« der Vergangenheit. »Zögernd Zukunft kommt herangezogen. Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen. Ewig still ruht die Vergangenheit.« Alles, was zu belegen war, durch Funde, logische Zusammenhänge, blieb unabänderlich. Freilich, beim Schlüpfen, innerhalb des unerbittlichen Ringes gewesenen Geschehens, konnte sich der Reisende einer Art Interpretationsfreiheit bedienen, die in schwacher Form seinem eigentlichen Charakter Rechnung trug. Wie in der Musik: Komposition – Noten und Interpret – Interpretation. Aber welcher Schock, wenn der Interpret die Fessel der Noten sprengt… Vielleicht sollten wir nicht sagen, daß die Vergangenheit absolut feststeht. Es sind Verläufe offengeblieben, die erst die Zukunft ausdeuten wird. »Ewig still ruht die Vergangenheit«, dieser schöne und traurige Spruch, trifft er wirklich zu?
Natürlich, verließe Maren Lars nicht, dann verliefe die Reise gut – vielleicht. Jedes Gremium, ganz zu schweigen von der KOMMISSION, hätte mich hinausgeworfen, wenn ich vorgeschlagen hätte, zu versuchen, den Ring zu sprengen.
Aber vielleicht… aus einer Situation großer Interpretationsfreiheit heraus? Die Dialektik sprach vom Sprung der Quantität in die Qualität. War »Interpretation« in diesem Sinne eine Quantität und »Korrektur« eine Qualität?
Ich vermute, subjektive Faktoren, Konzentration, Willensstärke, Suggestivität gäben den Ausschlag. Nur unter einer ungeheuren psychischen Anstrengung gelänge es vielleicht. Anne ließ es gelten, fügte aber Rationales hinzu, eventuell ein Programm, eine hier in der Gegenwart vorbereitete Szene, vorgeprägtes Verhalten, bestimmte Worte.
Es ist hier immer nur die Rede von uns, Anne und mir, Ute und Torsten. Ja, ich muß den traurigen Fakt bekennen: Unser Kollektiv bestand nicht mehr. Es zerbrach an den Ereignissen. Heiner hatte uns verlassen. Nur seine Adresse blieb zurück, für Ute, für den Notfall. Und wir übrigen bildeten keine eigentliche Arbeitsgruppe mehr; zwei Kranke – zwei Betreuer.
Ich sprach heimlich mit einigen Psychologen, die mir für das Projekt geeignet schienen. Sie sagten nicht ja, nicht nein. Nur einer half mir wirklich. Er, Anne und ich verfaßten einen Artikel. Es erhob sich ein wüstes Geschrei, alle Institutionen sperrten sich, aber wiederum genehmigte die Weltregierung ein Experiment in dieser Richtung – wir bekamen grünes Licht. Das Aussehen von Ute vor diesem Gremium hatte zu erschrekkend gewirkt – die Weltregierung besteht zu siebzig Prozent aus Frauen. Man griff nach jedem Strohhalm.
Die Reaktion von Lars auf Marens Bericht von dem fremden Manne im Zug hatte Maren enttäuscht, ja beleidigt. Trotzdem liebte sie ihn noch. Wir, Torsten und ich, sahen in der Szene an der roten Kirche die letzte Möglichkeit, Maren das Vertrauen zu Lars zurückzugeben. Lars mußte etwas tun, etwas sagen, das stark, egoistisch und positiv wirkte. Keine Toleranz.
Der Ablauf schien wohl so gewesen zu sein: Lars zieht Maren zur alten Kirchentür – instinktiv, dort wächst Unverwechselbares (der Regen im Tagebuch war eine lyrische Erfindung, das
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