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Der Mann von Anti

Der Mann von Anti

Titel: Der Mann von Anti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ekkehard Redlin (Hrsg)
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würde ihre Flucht nicht straflos hinnehmen. Wie würde seine Rache aussehen? Er war grausam –alle wußten es –, grausam, wie kaum einer der Herrscher vor ihm. Alle sagten das, alle, die noch seinen Vater gekannt hatten.
»Nein, nicht ins Gefängnis. Du wirst sehen – ich kann es gar nicht, selbst wenn ich es wollte.«
Sie sah ihn erstaunt an. Wie denn, er konnte sie nicht in den Kerker bringen? Er vermochte doch alles.
»Ruh dich aus, es wird dir noch schwer werden – nachher«, meinte Konrad, lehnte sich in den Sessel zurück und schloß die Augen. Scherua wäre gern seinem Beispiel gefolgt, aber ihr Herz schlug allzu stark, sie konnte nicht schlafen.
Wohin sollte sie in Ninive gehen? Zu Eriba-adad? Niemals. Zu Nur-ili? Erst recht nicht… obwohl…
    … gewiß war Nur-ili einer der sehenswertesten Männer am assyrischen Königshof. Schlank, groß, nicht so massig und zur Fettsucht neigend wie die meisten Assyrer; manches Mädchenauge hing an ihm, dem Gardeoffizier. Auch Scheruas.
    Nur-ili war für Blicke blind. Er kommandierte eine Einheit der königlichen Garde, die eigentliche Leibwache, und war im Palast zu Hause.
    Eriba-adad begab sich selten in den Krieg, er überließ das seinen Generälen. Seine Garde blieb also in den Unterkünften. Nur-ili konnte deshalb tun, was ihm beliebte. Er spazierte durch das Schloß und sah nach dem Rechten. Nur nach den Mädchen sah er offenbar nicht. Dafür warfen diese ihm desto öfter, verstohlen oder nicht, vielsagende Blicke zu.
    Scherua schleppte einen großen Tragkorb über einen der Höfe. Das Halteseil mochte alt und schwach sein, gleichgültig, warum – es riß, und der Inhalt purzelte auf den Boden. So schlimm war das nicht, es handelte sich um Nüsse, die vom Stoß keinen Schaden erlitten. Mühsam war nur das Aufsammeln. Unter dem Gelächter der Wachposten kroch sie hin und her und suchte alles zusammen. Zu sehr verweilen durfte sie nicht, sonst setzte es ein paar Hiebe mit dem Bratspieß. Der Küchenmeister verstand wenig Spaß.
    Sie kniete noch, als sie das leise Klirren eines Panzers hörte. Ängstlich sammelte sie weiter. Gewiß war es ein Wachoffizier. Würde er zur Peitsche greifen? Unachtsame Sklaven zu strafen stand jedem Hauptmann zu, der sie ertappte.
    Der andere zog es, wie sie merkte, vor, nichts zu tun. Vermutlich betrachtete er sie, und Scherua wußte zu gut, daß ihr knapper Kittel nicht allzuviel verbarg.
    Als sie fertig war, erhob sie sich, um den Tragkorb aufzunehmen. In diesem Augenblick erkannte sie den Zuschauer. Es war… Nur-ili!
    O Schande!
Der Offizier schmunzelte, auf einmal streckte er die Hand aus und griff mit einem Finger in den Halsausschnitt, um einen Blick hineinzuwerfen. Unwillkürlich schlug sie zu. Noch im gleichen Moment erschrak sie furchtbar, aber da war es schon zu spät.
Schallendes Gelächter ringsum.
Scherua blickte entsetzt auf den Hauptmann, in dessen Gesicht unfaßbares Erstaunen lag. Tiefe Röte stieg ihm in die Wangen, fassungslos starrte er auf die Hand, die ihn getroffen hatte.
Zu Tode erschrocken rannte sie davon. In der Küche bekam sie, wie erwartet, eine Ohrfeige, weil das Nüsseholen so lange gedauert hatte. Aber sie spürte sie kaum. Das Entsetzen stak ihr in allen Gliedern.
Wenn Nur-ili…?
In den folgenden Tagen lebte sie wie im Fieber. Überall fürchtete sie, dem Hauptmann zu begegnen. Würde er ihr verzeihen oder sie dem Aufseher melden? Das wäre schlimm, denn dann blieb es nicht bei einer Ohrfeige. Was würden sie mit ihr machen? Als mehrere Tage vergangen waren, ohne daß sich etwas ereignete, faßte sie wieder Mut.
Dann war sie eines Abends in die Gemächer des Königs gerufen worden.
Natürlich; jetzt, wo sie genügend nachgedacht hatte, sah sie es ein: Gewiß hatte jemand dem Herrscher von dem Vorfall erzählt. Eriba-adad war neugierig geworden und hatte jenes Mädchen zu sich befohlen. Oder hatte Nur-ili von ihr berichtet, um so Rache an ihr zu nehmen? Als er im Kerker erschien, sprach er eigentlich anders…
Scherua schloß die Augen. Wieder in Assyrien – die Vergeltung des Königs mußte furchtbar sein…
    »Du hast tief geschlafen, was?« fragte Konrad, als sie die Augen öffnete. Sie befanden sich immer noch in dem runden Gemach – aber draußen vor dem Fenster dehnten sich sandige Hügelketten. Wo waren sie jetzt?
»Steig aus. Wir werden noch ein wenig fahren müssen. Unser
    Flugzeug kann nicht mitten in der Stadt heruntergehen.« »Die Leute würden sich zu Tode erschrecken«, sagte

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