Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann von Anti

Der Mann von Anti

Titel: Der Mann von Anti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ekkehard Redlin (Hrsg)
Vom Netzwerk:
brachte sie langsam hervor.
»Richtig! Nun siehst du, es geht doch! Nicht soviel Angst haben; wer wirklich etwas will, der schafft es auch.«
Scherua lächelte verlegen und ein bißchen stolz. Das Bewußtsein, daß sie die Sprache der Götter zu verstehen begann, gab ihr Mut. Wenn sich die Unsterblichen unterhielten, verstand sie schon hin und wieder ein Wort und eine Wendung.
Ich bin nicht mehr ganz so einsam, dachte sie, ohne diesen Gedanken in Worte zu fassen.
Und noch etwas war ihr nach langer Erfahrung klargeworden. Wenn sie vor allem floh, was ihr fremd war – und es gab sehr viel davon! –, was machte das für einen Eindruck! War sie nicht Assyrerin, nicht mutig und verwegen? Zwar war sie Sklavin gewesen – jedoch gewesen! Sie nahm sich vor, ihr Erschrecken nicht mehr zu zeigen.
An manches gewöhnte man sich auch. Diese… diese Schalter da an den Wänden waren wirklich ungefährlich. Warum sollte sie sich vor ihnen fürchten? Eines Abends hatte sie sich hingestellt und einen dieser… Schalter ein dutzendmal hintereinander auf und ab bewegt; das Licht flammte auf und verlosch, flammte auf und verlosch. Es hatte sie schließlich belustigt.
Konrad hatte ihr eine Menge dieser merkwürdig sorgfältigen Zeichnungen gezeigt, auf denen Menschen und Tiere abgebildet waren. Viele kannte sie bereits – aber noch viel mehr kannte sie nicht.
Und die Sklavennarbe! Was war sie froh, daß sie diese Schande nicht mehr an der Stirn trug! Die Götter – wie sie das wohl zuwege gebracht hatten? Nachdem sie lange geschlafen hatte, war die Narbe weg gewesen. Und ein paar Tage darauf schuppte die schwach glänzende Haut ab – und alles war vorbei, niemand erkannte mehr, daß sie einst Sklavin gewesen war.
Scherua wäre kein Mädchen gewesen, wenn sie nicht bemerkt hätte, daß Konrad sie mit Vergnügen betrachtete. Ihre Eitelkeit erwachte. Sie versuchte, ihre schwarzen Locken noch schöner zu drapieren, noch gefälliger zu legen. Wenn ihr gar ein Unsterblicher sein Wohlgefallen schenkte, wovor sollte sie sich dann noch fürchten?
»Und wie sagst du, wenn du das hier siehst?« Konrad schob ihr ein anderes Bild hin.
»Das – das – ist – ist ein – Tisch!«
Er nickte. »Und du wolltest mir erzählen…« Der Gott drohte lächelnd mit dem Finger, und Scherua stimmte in das leise Lachen mit ein.
    Der Kasten fuhr auf Rädern wie jeder Wagen in Ninive, doch Scherua fand niemand, der das Gefährt in Bewegung setzte, weder Pferde noch Esel oder Rinder zogen es. Im übrigen besaß es keine Deichsel. Sie hörte nur ein leises, ständiges Summen wie von einem entfernten Bienenschwarm. Da sie nicht feststellen konnte, woher das Geräusch kam, überlegte sie sich, daß es mit dem merkwürdigen Wagen zusammenhängen mochte.
    Die durchsichtigen Wände – die Götter sagten Glas dazu! – erlaubten einen Ausblick auf die vorbeifliegende Landschaft. Wie in einem Eselkarren – nur viel schneller!
    Sie fuhren über eine breite und offenbar hervorragend gebaute Straße. Scherua, die die zahllosen Schlaglöcher der Königsstraße in Ninive kannte, spürte nicht einen einzigen Stoß. Warum dieser breite Weg freilich gerade dunkelgraublau gefärbt war, sah sie nicht ein. Aber es war eben so.
    Wohin fuhren sie eigentlich? Konrad – der Gott Konrad, korrigierte sie sich rasch – hatte es ihr nicht gesagt. Nie hätte sie gewagt, ihn danach zu fragen. Ihr war beklommen zumute. Was sollte jetzt mit ihr geschehen?
    Scherua sah, wie sie sich einer anderen Straße näherten. Auf dieser fuhren zahllose solcher Wagen dahin, vielleicht, daß sie ein wenig anders aussahen. Und die darin saßen, waren das alles Götter? Sie konnten unmöglich so zahlreich sein.
»Götter?« fragte sie schüchtern.
    Konrad schüttelte den Kopf. »Nein, Scherua – Menschen wie du und ich. Wir sind keine Götter.«
Scherua blickte hinaus und schwieg. Sie wußte keine Antwort mehr. Götter Verkündeten die Wahrheit, Menschen dagegen häufig nicht. Wenn Konrad kein Gott war, sprach er dann wahr oder nicht? Wozu sollte er sie belügen? Ihre Gedanken verwirrten sich.
»Wo bin ich nun wirklich?« fragte sie plötzlich heftig. »Du sagst, ich sei am Leben. Wohin hast du mich aber gebracht? Welches Land ist das? Und… was soll aus mir werden?«
Konrad blickte sie erstaunt an. Dann drehte er an einem großen Rad, der Wagen bog zur Seite ab und kam am Rand der Straße zum Stehen.
Scherua erschrak. Jetzt würde er sie strafen, sie hatte ihn beleidigt. Er war so gütig zu ihr,

Weitere Kostenlose Bücher