Der Mann von Anti
wenn ich’s nur gesagt hätte«, begann Konrad
und zog sie neben sich auf einen Mauerrest. »Aber ich mußte
es tun. Du kannst nicht mehr zurück – auch wenn ich dir helfen
wollte, es geht nicht. Ninive ist nur noch Ruine, deine ehemaligen Herren sind tot; alle, die du gekannt hast, sind tot. Du lebst,
und deshalb mußt du neue Wege suchen. Es führt kein Weg
zurück.«
Scherua sah an ihm vorbei.
»Ich bin also ganz allein«, murmelte sie.
»Du bist frei. Verstehst du, Scherua, du bist frei!«
»Warum habt ihr es getan, ihr Götter?«
»Schau hinüber zum Tempel! Was ist aus ihm geworden? Ein
Schutthaufen. Die Götter Assyriens waren Standbilder – und
nicht mehr. Sie sind vergangen und vergessen.«
»Dann wart ihr stärker, und ihr habt sie vertrieben?« »Nein, nicht wir – die Zeit. Die Menschen wurden klüger.
Am Anfang wußten sie gar nichts, wußten nicht einmal, wie
man Feuer macht…«
Scherua nickte. Davon hatte sie gehört.
»Je klüger sie wurden, desto weniger glaubten sie an die
Macht der Götter. Denn wenn die Standbilder von Menschen
geschaffen wurden, konnten Menschen sie auch zerstören. Es
gibt keine Götter, man hat nur behauptet, daß es sie gab.« Sie sah ihn verstört an.
»Wir Menschen haben inzwischen die ganze Welt abgesucht,
wir sind in die tiefsten Meere getaucht, auf die höchsten Berge,
gestiegen; wir sind hoch in die Luft geflogen und haben die
Sterne besucht – nirgendwo waren die Götter zu finden. Wir fanden nur ihre Statuen, und die waren von Menschen ge
macht.«
»Aber wozu…?«
»Wer an sie glaubte, der war bereit, sich ihnen zu unterwerfen, stimmt das?«
Sie nickte.
»Wer sich aber den Göttern unterwarf, der mußte sich auch
ihren Vertretern unterwerfen, die den Willen der Unsterblichen
verkündeten – den Königen. Stimmt das auch?«
Wieder nickte sie.
»Wir haben keine Könige mehr, also haben wir auch keine
Götter mehr. Wir sind beider ledig! Götter und Könige – sie
haben nur Unglück gebracht.«
Scherua dachte nach. »Aber… wer befiehlt, wenn ihr keinen
König habt? Jemand muß doch herrschen.«
»Wir haben einen Rat, der von Zeit zu Zeit neu gewählt wird.
Er entscheidet – dazu brauchen wir keinen König.«
»Es… es gibt also keine Götter?«
»Es hat sie nie gegeben, und wir brauchen sie auch gar nicht.
Lange genug haben uns Könige wie Eriba-adad unterdrückt,
und die Götter straften sie nicht. Jetzt sind wir reich, klug und
vor allem frei geworden; sollen wir das bedauern?«
»Aber ich bin unwissend, arm und fremd. Was nützt mir die
Freiheit?«
»Du hast eine Heimat.« Konrad faßte nach ihrer Hand. »Du
kannst bei uns bleiben.«
»Ist das meine Heimat? Ich kenne niemanden, ich kann
nichts.«
»Du kannst lernen, und du kennst zum Beispiel mich.« Sie warf ihm einen Blick zu, den er nicht bemerken sollte.
Leider hob er den Kopf zu früh. Scherua schlug die Augen
nieder und ging langsam zum Wagen zurück. Der Wächter
grüßte mit einer Handbewegung.
Die Rückfahrt verlief schweigend.
Erst als sie wieder im Flugzeug saßen, fand das Mädchen die
Sprache wieder. »Was soll ich nun tun?«
»Wie meinst du das?« erkundigte sich Konrad, aber sie hatte
das Gefühl, daß er genau wußte, wonach sie fragte.
»Ich… ich muß doch irgend etwas tun.«
»Es wird sich schon etwas finden. Du könntest vielleicht unseren Leuten Assyrisch beibringen. Schließlich hast du selbst
gesehen, wie wenig wir es beherrschen.«
»Ihr sprecht eine ganz andere Sprache. Wozu braucht ihr Assyrisch?«
»Manche Menschen beschäftigen sich mit der Vergangenheit,
auch mit Assyrien. Vieles über deine Heimat wissen wir noch
nicht, manches sehen wir vermutlich falsch. Wenn wir die
Schriften richtig lesen wollen…«
Sie nickte. Natürlich, er hatte recht.
»Und das muß ich also tun?«
»Wenn du willst. Willst du etwas anderes tun – wir werden
sehen. Du mußt durchaus nicht dieses oder jenes tun. Hingegen
gar nichts zu tun, das ist eine Art, die wir nicht mögen. Ist das
so schwer?«
»Nein«, gab sie zu. »Doch…«
»Doch…?«
»Und was wird mit dir? Ich meine…«
Konrad schmunzelte, schwieg aber. Scherua war über und –
über rot geworden. Sie blickte angestrengt aus dem Fenster,
während das Flugzeug durch die Luft dahineilte.
Die Wolken, dachte sie, liegen unter mir, aber sie liegen auch
vor mir und um mich. Wenn da eine Sonne wäre – kein Gott,
nein –, einer, der Rat wüßte und Stütze wäre…
»Ich«, meinte Konrad nach einer Pause, »werde mich weiter
mit meiner
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