Der Mann von Anti
sie aber hatte ihn angeschrien! Dafür gab es keine Entschuldigung.
»Scherua«, er nahm ihre Hand, »Scherua, es wird nicht einfach für dich sein, das weiß ich. Aber du kannst es schaffen, in dieser Welt zu leben. Sie erscheint dir noch fremd, aber du wirst dich an sie gewöhnen. Immer kannst du nicht im Haus der Kranken bleiben…«
Sie wich zurück. »Du willst mich zu Eriba-adad zurückbringen?«
»Eriba-adad ist tot. Aber die Welt ist groß, und du kannst nicht hierbleiben – nicht für alle Zeit. Doch zuvor müßt du diese Welt erst richtig kennenlernen.«
»Sind sie auch alle« – sie deutete auf die vorbeifahrenden Wagen – »aus Ninive?« In ängstlicher Erwartung starrte sie ihn an.
Er zögerte. »Nein… du bist die einzige Assyrerin.«
Scherua verbarg den Kopf in den Händen. Allein! Ganz allein! Wohin sollte sie? Was sollte sie tun? Wer würde ihr helfen, wer sie beschützen?
Sie weinte hemmungslos.
»Bring mich zurück! Bring mich zurück, bitte! Bitte! Lieber am Pfahl sterben, als so gequält zu werden! Bring mich nach Ninive zurück!«
Konrad schwieg. Er schwieg so lange, daß sie ängstlich aufsah. Sein Gesicht war finster, aber auch traurig.
»Ich kann dich nicht zurückbringen, Scherua. Es ist unmöglich.«
»Ihr habt mich hergeholt, ihr könnt mich auch zurückschaffen. Bitte, tue es! Laß mich nicht in der Fremde zugrunde gehen!«
Konrad atmete tief und blickte aus dem Fenster. Sie sah ihm an, daß er mit sich rang. Aber sie wollte nicht hierbleiben, sie konnte es nicht länger ertragen. Diese ständige Qual der Einsamkeit – nein, lieber zurück an den Pfahl!
Dann würde sie sterben, und alles wäre vorbei. Dann würde sie auch ins wirkliche Land der Toten kommen. Dann…
Sie hörte ein leises Summen. Konrad sprach in der Göttersprache mit jemandem, den sie nicht sehen, konnte. Sie verstand nur wenige Worte. Es ging um irgend etwas mit »fliegen«. Vielleicht sollte ein großer Zaubervogel sie nach Ninive zurücktragen. Ihre Hoffnung belebte sich. Sie hatte Bilder von diesen Tieren gesehen.
»Komm, Scherua, wir kehren erst einmal nach Hause zurück. Morgen wirst du Ninive sehen. – Ich wollte dir heute eine unserer Städte zeigen, aber du hast recht: Wir müssen von deiner Rückkehr reden, denn du weißt etwas noch nicht…«
»Ja, das ist der Vogel. Wir nennen ihn Flugzeug«, erläuterte Konrad. Scherua betrachtete das große Ding mißtrauisch und etwas ängstlich. Konnte es sich nicht erheben und einen Menschen anfallen? Aber es wagte wohl nicht, den Göttern – nein, seinen Herren zuwiderzuhandeln.
»Komm, steigen wir ein. Es ist nichts dabei – keine Gefahr.«
Das Mädchen folgte ihm, ohne etwas zu sagen. Es ging also nach Ninive – zu den Ihren, nach Hause. Sie würde sterben, aber dann hatte sie endlich Ruhe und Frieden.
Der Raum, den sie betraten, war rund. Einige Sessel standen darin.
Konrad bedeutete ihr, sie möge sich setzen. »Ich bin gleich wieder da.«
In der Tat erschien er sofort wieder. Was er in dem Raum davor getan hatte, sagte er nicht.
Ein Brummen erscholl plötzlich, das Mädchen führ zusammen.
Im gleichen Moment sah sie, wie die Landschaft hinter dem Fenster fortglitt.
»Wie im Wagen.« Konrad lächelte. Scherua nickte schwach.
»Wir hätten auch nach Ninive fahren können«, ergänzte er. »Aber der Weg ist sehr, sehr weit. Wir hätten Tage dazu gebraucht. So werden wir bald dort sein – du weißt ja, Vögel sind schneller.«
»Zurück nach Ninive.« Sie seufzte und sah ihn vorwurfsvoll an. »Warum habt ihr mich nur von da fortgeholt?«
»Ich dachte, es wäre besser für dich, zu leben.« Seine Stimme klang unsicher. »Im übrigen… nun, du wirst sehen.«
»Es ist zuviel für mich, Herr! Viel zuviel, ich würde es nie geschafft haben, was du mir befahlst. Es ist besser, ich sterbe.«
Scherua blickte aus dem Fenster und erschrak wieder. Sie flogen bereits hoch über dem Land. Sie sah Wälder und Felder unter sich. Wolken zerflatterten und bedeckten schließlich alles. Im Raum war es hell, die Nebel draußen störten nicht – und doch ängstigte sich das Mädchen sehr. Wenn der Vogel ermüdete! Wenn ihn jemand mit einem Pfeil abschösse! Freilich, es war ein Zaubervogel…
»Wohin bringst du mich?«
»Nach Ninive, wie du es gewollt hast.«
»Ins Gefängnis?«
Die alte, längst vergessen geglaubte Furcht bemächtigte sich ihrer. Sie würde abermals ergriffen und dann getötet werden. Es war nicht der Tod, es war die Rache, die sie fürchtete. Eriba-adad
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