Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Skulpturen, die sind innen hohl«, sagte Paul und zeigte in den Garten. »Die Seele von deinem Vater haben wir auch.«
»Wirklich?«, fragte der Rilkesohn.
»Ja, dein Vater kann momentan in keinen anderen Menschen hineinströmen, darum gibt's ja auch keine guten Dichter mehr, wie meine Mutter sagt, da müssten wir ihn erst kaputt schlagen.«
Der alte Sohn sah ihn etwas erschrocken an, wie man manchmal Kinder anschaut, denen man eine schöne Geschichte erzählt, die sie dann ganz anders enden lassen.
»Ah so«, sagte er und legte die Hose mit einer Bügelfalte über den Stuhl.
Paul spürte einen Windstreich. Vielleicht war es auch nur Nullkück, der mit einem Sprung vom Hanomag wieder neben ihm stand. Hatten sie eine Seele befreit? Gerade diese? War jetzt so ein Seelenwind in der Welt?
Vielleicht war es gut, dachte er, dass sein Großvater Naziskulpturen angefertigt hatte, um damit die Seelen von solchen Menschen einzusperren. In die Skulptur von Bismarck oder Napoleon sollte man nach Möglichkeit auch nie ein Loch machen, wenn es sich vermeiden ließ. Auch über Luther hatte er im Arbeitsjournal des Großvaters nichts wirklich Gutes gelesen. Vielleicht könnte man bei Willy Brandt ein Loch hineinmachen, damit es irgendwann wieder bessere Politiker gab.
Nullkück war mit dem Arm zur Max-Schmeling-Figur gelaufen und hielt den Grußarm probeweise neben den schlagenden Boxarm, als ob es zwischen einem geschichtlichen Diktaturarm und einem sportlichen Siegerarm eine Ähnlichkeit geben könnte.
»Was machst du da?«, fragte Paul.
Nullkück sah ihn hellsichtig an.
Schlau, dachte Paul und erinnerte sich an die Zinnsoldaten und wie Nullkück ihnen ständig etwas absägte und woanders wieder dranlötete. Vermutlich überlegte er, wie man nun die Geschichte umlöten und eine Verwechslung noch glaubhafter machen könnte. Allerdings machte man den Hitlergruß mit rechts und Schmeling schlug im Garten mit links, er war Linksausleger, da war Pauls Großvater genauso sorgfältig gewesen wie mit den Ecken in den Haaren bei Willy Brandt.
Nullkück lief mit dem Arm zurück in die Scheune und versteckte ihn. Dann holte er eine der alten Schnapskisten, zwei weitere und ein Brett. Er legte die eine Seite des Bretts auf eine der Kisten, die beiden anderen positionierte er daneben.
Paul saß immer noch vor dem Loch, aus dem der gefangene Seelenwind, wie er glaubte, gewichen war.
Schließlich fuhren sie den Bauernführer mit der Schubkarre über das Brett auf die Schnapskiste, stellten sich auf die beiden anderen und hievten den Mann aus erheblich besserer Position in den Anhänger.
Sie liefen ins Haus. Paul zog sich eine warme Jacke an, Nullkück füllte noch eine Thermoskanne mit Malzkaffee. Danach nahmen beide wieder ihre Plätze auf dem Trecker ein.
Nullkück glühte vor und suchte den Lichtschalter. Paul beobachtete, ob Malte Jahn, vom Starten des Motors alarmiert, aus dem Nachbarshaus laufen und wie sein Großvater voller Verdächtigungen nach dem Rechten sehen würde.
Der Hanomag R24 ratterte über den Teufelsmoordamm. Sie bogen ab auf die Straße, Richtung Worpswede, Zentrum. Nullkück schob den Gashebel auf die höchste Drehzahl, beugte sich leicht vor und klappte die Windschutzvorrichtung herunter. Er schaltete auf Fernlicht. Nullkück war noch nie mit Licht gefahren, und auf einer richtigen Landstraße fuhr er bestimmt auch zum ersten Mal, dachte Paul. Der Nebel stieg aus den Gräben und verdichtete sich vor den Scheinwerfern mehr und mehr zu einer weißen Wand.
Paul saß in geduckter Haltung. Er wollte gerade seine Hosentasche mit dem Brief zurechtrücken, weil die Tüte, in der man den Brief all die Jahre aufbewahrt hatte, ganz hart und unformbar geworden war mit Spitzen, die ihm in die Leiste stachen - als sein Handy klingelte. Er riss es aus der Jacke.
»Hallo!«, hörte er seine Mutter rufen. Sie hatte ihr Schweigen beendet und meldete sich von der Insel. »Alles in Ordnung?«, fragte Paul.
»Gerade ist die Sonne hinter El Golfo untergegangen!«, sagte sie. »Der Sonnenuntergang ist immer etwas sehr Besonderes hier, weißt du ja.«
»Ja, weiß ich«, antwortete Paul und stellte sein Handy auf Lautstärke zehn. Er hielt sich mit der anderen Hand an der Windschutzvorrichtung fest.
»Wie gehen die Bauarbeiten voran? Hat Brüning eine Lösung vorgeschlagen?«, erkundigte sie sich, so als habe es nie andere Probleme gegeben, aber auf Lanzarote gab es auch keinen Dr. Rudolph, der durch den Garten lief
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