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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Bank sich überraschenderweise ein Kunstdepot zulegte und Paul damit beauftragte, Landschaftsbilder in der Filiale aufzuhängen, Einladungskarten zu gestalten und belegte Schnittchen für die Ausstellungseröffnung vorzubereiten. Nach ein paar Wochen verabschiedete er sich von der Bank, von Las Brenas und von seiner Mutter. Er musste nun in die Welt, zurück nach Deutschland, Zivildienst in Köln, ein paar belanglose Semester Kunstpädagogik in Berlin - bis er mit seinen ewigen, nie wirklich zu Ende gebrachten Projekten begann.
    »Kann ich dich mal unterbrechen?«, schrie Paul durch das Handy und krallte sich an dem Windschutz fest. »Ich kenn die Insel, aber mit dem Telefonieren, da ist es gerade mal nicht so passend!«
    »Wenn du rangehst, signalisierst du aber, dass es passend ist! Sag mal, hagelt es bei euch? Es tackert ja so?«
    Der Bauernführer hinten klackerte nicht mehr, er tackerte auch nicht, das waren jetzt monotone Metalltöne auf dem Weg zum dumpfen Glockenspiel.
    »Geh doch woandershin, wo es ein bisschen ruhiger ist!«, rief seine Mutter.
    »Das geht nicht, ich bin auf einem Trecker!«, brüllte Paul.
    »Was machst du denn auf einem Trecker?«, schrie sie.
    »Ich kümmere mich um deinen Vater!«, schrie er zurück und stieß Nullkück an, der das Fernlicht ausschalten sollte, man sah nur noch Nebel.
    »Genau darüber will ich mit dir reden. Das letzte Jahrhundert ist sehr schwer zu verstehen«, begann seine Mutter auszuführen. »Und ganz besonders diese Zeit, von der wir sprachen, war eine zweischneidige Zeit, in der der Mensch mal so, mal so agierte. Hörst du mich?«
    »Ja, ja, ich höre«, antwortete er. Die Liste!, schoss es ihm durch den Kopf, sie wusste noch nichts von der Nordischen Liste! Ihr Vater mit den ganzen Reichsleitern und Deportations-Verbrechern! Nur wie sollte er ihr jetzt auf dem Trecker erklären, was es mit der Nordischen Gesellschaft auf sich hatte, und wie es vermutlich dazu gekommen war, dass sich ihr Vater als kleiner Ratmann dafür hergegeben hatte, eine winzige, aber funktionierende Schraube in so einer Welt zu werden?
    »Ich mach's mal kurz«, rief seine Mutter.
    »Danke!« Paul sah im Nebel ein Stoppschild, an dem Nullkück mit Vollgas vorbeirauschte.
    »Deine Großmutter hatte mal angedeutet, dass Vater aus Angst vor den Nazis einige seiner Arbeiten im Garten vergrub, die all das Leid und die Not der Menschen zum Ausdruck brachten, aber er hat sie nie mehr gefunden. Bitte grabe danach! Schaue dir die expressionistische Phase des Worpsweder Bildhauers Bernhard Hoetger an, da gibt es Ähnlichkeiten. Wenn du diese Phase von deinem Großvater jetzt dagegensetzt ... Ich will auf keinen Fall, dass irgendetwas aus der anderen Phase in die Ausstellung kommt! Dein Großvater wird dann nur darauf reduziert, das hat er nicht verdient. Du bist mein Sohn und der Enkel meines Vaters. Versprich mir, dass wir dagegen etwas tun werden!«
    Paul starrte in seitlich auf ihn zukommende Lichter. Er riss seinen Kopf zu Nullkück, der mit seinen fliegenden Haaren mittlerweile aussah wie dieser irre Professor auf dem Schlitten in »Tanz der Vampire«. Paul fragte sich, warum immer diese Filmbilder in ihm aufstiegen, außerdem gerade jetzt, wo ihm seine Mutter von den Phasen ihres Vaters erzählte, während ein Lkw-artiger Kasten mit riesigen Scheinwerfern auf ihn zuraste.
    Es war eindeutig, Nullkück hatte das Stoppschild nicht nur übersehen, er kannte es gar nicht, was auf dasselbe hinauslief: Unberirrbar rauschte er mit seinem Schlitten und dem Blutsauger hintendrauf, untermalt vom monotonen Glockenton und dem Knattern des Hanomags, auf die Kreuzung zu, wo Überhammer- und Umbeckerstraße zusammenstießen.
    Paul überlegte schnell, was er seiner Mutter sagen sollte, als er wieder die Spitze der hart gewordenen Brieftüte spürte - Gut, gut, ich grabe ab morgen nach dieser ganz bestimmten Phase, warum nicht? Oder: Leck mich am Arsch, konzentrier dich auf deine neue Künstlerkolonie und History Change, aber lass mich mit Worpswede und deinem Vater in Ruhe! - Immer dieses Hin und Her, dachte Paul, während ihm von der anderen Seite auch noch der Armreif, den Nullkück im Moor gefunden hatte, in die Eingeweide drückte. Immer dieses Her und Hin, empfand Paul in geduckter Haltung, während sie die Kreuzung erreichten. Immer dieses Hin und Her zwischen Ja und Nein, zwischen der Erfüllung ihrer Wünsche und der endgültigen Auflehnung eines erwachsenen Mannes, der seiner Mutter das Jahrhundert und

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