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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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ja furchtbar, dachte Paul. »Wir brauchen auch etwas zum Sägen!«, rief er Nullkück hinterher, der im Dunkel der Scheune verschwunden war.
    »Sofort absägen!«, Paul kam die Idee, den erhobenen Grußarm einfach abzusägen, bevor er diesen Mann für immer in der Hamme versenken würde. »Wenigstens der Arm muss ab!« Er fühlte sich mit dem Gedanken besser, wenigstens diese Form von Widerstand war noch möglich, auch wenn es ihm aus persönlichen Gründen unmöglich schien, den Widerstand gegen seinen Großvater, seine Mutter und am Ende auch gegen sich selbst, das Haus und damit gegen sein Erbe auszuweiten. Ein Wahnsinn, dachte er, in ein Haus zu investieren, es neu zu gründen, und dann steigen sprechende Nazis aus dem Garten auf!
    Wissen Sie, wir Menschen, wir passen uns an, ohne es zu merken. Wir schwimmen schon in dem Strom der Zeit, wir wollen alle leben, Erfolg, nutznießen, teilnehmen, wir sehnen uns danach. Und der reißende Strom kann alles, Herr Kück. Er kann aus einer mittelmäßigen Idee eine geniale Erfindung machen, aus einem grellen Gekritzel ein modernes Kunstwerk, aus einem kraftlosen Geschreibsel eine literarische Meisterleistung! Schwimmen Sie mit, Herr Kück, aber was sage ich, Sie schwimmen ja schon, wir schwimmen alle!
    »Wo bist du?«, fragte Paul in die Dunkelheit hinein. »Vielleicht ein Vorschlaghammer!«, rief er, als er einen dumpfen Schlag vernahm.
    Frage: Ist es den Deutschen nicht anerzogen, der Obrigkeit zu gefallen? Ist es den Menschen nicht überhaupt anerzogen, zu gefallen? Schauen Sie sich doch um! Alle wollen gefallen!
    »Hast du die Plane gefunden?«, erkundigte sich Paul und spürte, wie er zitterte.
    Nullkück antwortete nicht.
    Schade, schade, wir müssen Schluss machen, Herr Kück. Ich muss zum Reichserntedankfest auf den Bückeberg! Heben Sie Ihre Hand zum Gruße, diese Ihre formende Hand, mit der der Künstler nach Ruhm und Anerkennung strebt. Ach, wie könnte sie nicht zur Hure werden. Heil Hitler! Ich komme wieder!
    Paul bewegte sich in kleinen Schritten an der verrotteten Kartoffelwaage und der Schrotmühle vorbei, er versuchte mit dem Display seines Handys zu leuchten. Er trat einen alten Fahrradreifen zur Seite, der sich aufbäumte, ihn anzischte und sich zur Seite wegschlängelte. Paul machte einen hastigen Schritt in die entgegengesetzte Richtung, trat auf etwas, das raschelte, griff nach einer Plane und zog sie weg: Darunter befanden sich leere Kanister. Er schoss einen von ihnen mit dem Fuß durch die Scheune.
    Nullkück lag zwei Meter entfernt auf dem Boden. Mit dem Gesicht in einem der Weidenkörbe, in denen Johan und Hinrich das Obst gesammelt hatten.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Paul. Er zog ihn an den Hosenträgern aus dem Korb und zurück ins Licht, dabei schlug er ihm mit den Fingerspitzen einen Weberknecht aus den Haaren.
    Nullkück stammelte nur.
    »Was hast du da?«, Paul sah auf einen vergammelten Strohhut, den Nullkück mit verkrampfter Hand umklammerte. Und dann fiel sie ihnen aus dem Hut entgegen: eine kleine, durchsichtige Tüte. »Lindenapotheke Worpswede« stand noch schwach auf der knittrigen, hart gewordenen Verpackung, durch die ein weißes Papier schimmerte.
    Nullkück zuckte mit den Schultern.
    »Gib mal her«, sagte Paul und sah sich die Tüte an, die offensichtlich vor langer Zeit zugeklebt worden war. »Vielleicht ist da drin ein Brief...«
    Plötzlich veränderte sich das Licht. Der Schatten eines Menschen fiel in den Schuppen. Sie drehten sich um. Die Tür schlug zu. Es war stockdunkel.
    Paul irrte auf das winzige Licht zu, das noch durch das Schlüsselloch in die Scheune drang. Erst fiel er über den Kanister, den er unter der Plane gefunden und durch die Scheune geschossen hatte, dann riss er die Tür auf und sah - vom Tageslicht geblendet - nichts.
     

Vergangenheitsbewältigung mit Hanomag-Ackerschlepper (Und das Muttertelefonat Nr. 5)
    Der Traktor stand auf der Wiese zwischen Gerkens Milchkühen. Gerken hatte den Zündschlüssel auf den Küchentisch geworfen mit diesem fürchterlichen Lachen, mit dem er Paul schon damals verängstigt hatte, als es um Marie und die verborgenen Geheimnisse des Moores ging.
    Er hatte nur »Köhwischen« gesagt, er hätte aber auch »Marie« sagen oder wie bei dem ausgegrabenen Bronzemann die Mütze ziehen können, um das alte Bauerntum und den »Reichsacker« zu beschwören.
    »Mit Anhänger?«, hatte Paul noch gefragt, aber Gerken war bereits, ohne zu antworten, mit einem Likör in seine Stube

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