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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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ihren Vater um die Ohren knallt und sagt: Ich grabe nicht!
    »Bist du noch dran?«, rief seine Mutter. »Ich habe mir auch Gedanken über deine Atmung gemacht: deine Moorallergie ist wahrscheinlich psychosomatisch. Du hast keine, aber du denkst, du hättest eine, weil in Wahrheit etwas anderes nicht stimmt. Ich würde vorschlagen, du befreist dich einfach von den alten Mustern und springst in die Hamme.«
    Er wäre jetzt am liebsten auf dem Trecker aufgestanden. Er spürte die Mitte seines Bauches, einen lebenslang unterdrückten Magen, der ihn nun herausforderte, seine Kindheit zu durchbrechen, einen riesigen, gewaltigen Gefühlsanker zu werfen und es endlich herauszuschreien: Nein! Nein! Nein!!! Was denn noch alles bitte?!? Ich springe nicht in die Hamme! Und schick mir auch keinen Salat mehr! Nie wieder Salat mit der Post!! Ich stell mich nie wieder in die Schlange, um einen postgelagerten Salat abzuholen, der acht oder neun Tage in einer dunklen Box gelegen hat! Meinst du, ich esse den?! Glaubst du, dass ich das esse?! Ich habe alle deine Salate weggeschmissen! Das Herz hat mir dabei wehgetan, weil es ja verdammt noch mal Muttersalate waren! Aber wenn ich sie gegessen hätte, wäre ich wahrscheinlich gestorben an Fäulnis, ich musste mich Hunderte von Malen entscheiden zwischen Herzweh oder Fäulnis! Und wir reden auch nie wieder über meine Moorallergie!! Ich habe sie und damit basta! Ich kann nicht atmen! Ich brauche Luft, Luft, Luft!!! Hörst du mich?!? Halmer ist übrigens blind! Ich stelle blinde Maler aus! Nicht nur erfolglose, sondern auch blinde Maler, hörst du mich?!!
    Er kam nicht mehr dazu. Der Lkw raste, während er offensichtlich versuchte, vollzubremsen, einen halben Meter an Pauls Sitz vorbei und brach durch die Böschung in die Moorwiesen ein.
    »Mama ...Tschüß«, stammelte Paul ins Handy. Er stieß wieder Nullkück an, der sofort anhalten sollte, doch er schien wie in Trance dahinzufahren.
    Sie befanden sich jetzt auf der Weyerdeelener Straße, im strafrechtlichen Tatbestand der Fahrerflucht. Und es war nicht mehr weit bis zur Hamme-Niederung, wo die Reise mit einer Vollbremsung ihrerseits zwei Meter vor dem Heimatfluss endete.
     

Einschlafversuche und Lesen im Bett (Orgasmusformel, Brodem des Moores, Großvaters Notizen)
    Paul versuchte zur Ruhe zu kommen. Er legte sich in sein Hochbett und blätterte in dem Buch »Die Funktion des Orgasmus«, das im Regal zwischen den »Buddenbrooks« und der »Schneekönigin« stand und von dem er nicht wusste, wie es in sein Kinderzimmer gekommen war.
    Er hätte lieber den Brief lesen sollen, dachte Paul, den er zusammen mit dem Armreif aus seiner Hose genommen und auf den Küchentisch gelegt hatte. Er war danach leise Nullkück gefolgt und hatte zugesehen, wie er sich vor den Computer setzte, den Drucker anschaltete und seine spezielle Landkarte ausrollte. Vermutlich saß er immer noch da und hielt den Kontakt zu den Truppen seiner Ödlandfrauen. Paul hatte keine Ahnung, was Nullkück denen überhaupt schrieb. Hoffentlich nicht, dass er gerade mit einem Hanomag R24 einen riesigen Lkw-Transporter ausgeschaltet hatte, um in geheimer Mission den deutschen Reichsbauernführer vor dem Zugriff der Öffentlichkeit in der Hamme zu versenken.
    Es war alles so einfach gewesen. Sie waren dicht ans Ufer gefahren und hatten ihn über den Anhänger in den Fluss geschoben. Es gluckerte nur, bis der Hohlraum voll Wasser gelaufen war, dann ging er, Blubb, unter. Paul hörte keine Stimmen mehr wie in der Scheune.
    Für den Rückweg entschied er, sich selbst ans Lenkrad zu setzen. Er konnte zwar nicht Trecker fahren, kannte aber immerhin Stoppschilder. Zudem wählte er eine andere Strecke, weil er es für besser hielt, nicht noch einmal über die Kreuzung Uberhammer/Umbecker Straße zu fahren, wer wusste, was da los war. Gesehen hatte sie hoffentlich niemand. Vielleicht Malte Jahn, aber Paul konnte keine Lichter bemerken, die eine Verfolgung aufgenommen hätten. Sich zu stellen, wäre Wahnsinn, überlegte Paul. Er würde bestimmt wegen Fahrerflucht ins Gefängnis wandern und Nullkück in die Anstalt eingeliefert werden; nein, er musste einfach nur sein Gewissen beruhigen. Was sollte auch schon passiert sein? Ein Lkw fuhr durch ein paar Büsche auf eine weiche Moorwiese.
    Einige Stellen in dem Buch waren mit Bleistift angestrichen, zum Beispiel: »Über die Verödung der Beckenerregung«, die Stelle war sogar mit Ausrufezeichen markiert:
     
    Es ist wichtig, den

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