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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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zurückgegangen.
    Es dämmerte, und der Abendnebel senkte sich langsam auf die Kuhwiese. Paul und Nullkück standen vor einem grünen Hanomag-R24-Ackerschlepper, ohne Zapfwellenantrieb, mit Handgashebel und neueren Vollgummireifen, Gerken konnte ihn auch als Kombinationsschlepper für Feld und Teufelsmoordamm einsetzen.
    »26 PS«, sagte Nullkück.
    »Fahr du lieber«, entschied Paul und prüfte, ob man ungefähr hundert Kilo problemlos auf den Düngeanhänger verladen konnte, auf dem noch ein paar Steckrüben lagen. Er setzte sich auf das Blech über dem Traktorrad, danach bestieg Nullkück den Fahrersitz, wie früher, wenn sie gemeinsam über die Felder rasten und Nullkücks Liebesbriefe an die Bäuerinnen verteilten. Er glühte zehn Sekunden vor, drehte den Zündschlüssel auf Start und ließ den Motor weitere zehn Sekunden laufen, während er den Gashebel auf die mittlere Drehzahl einstellte und langsam den Fuß von der Kupplung nahm.
    Wenn Nullkück etwas konnte, dann waren es variantenreiche Buchweizenpfannkuchen, die systematische Erfassung von Ödlandfrauen, Kunstwerke an Bäume anbinden und Trecker fahren. Er hatte in seiner Jugend viel bei Gerken, Renken und auch bei Semken geholfen, als dieser noch Landwirtschaft betrieb, Semken hatte später aufgeben müssen, weil man auf einmal computergesteuerte Melkmaschinen brauchte und zwanzigmal so viel Kühe, um auf dem Milchmarkt mitzuhalten. Gerken hatte die neue Arbeitskraft in den Hanomag R16 eingewiesen (das war der Vorläufer vom Hanomag R24), und so verbrachte Nullkück seine Jugend damit, auf den Feldern der Bauern Heu zu wenden, Mist zu streuen oder Steckrüben einzufahren und den Gashebel vor den Augen der jungen Bäuerinnen auf die höchste Drehzahl zu stellen.
    Er hatte den Düngeanhänger genau vor die offene Scheunentür rangiert und drückte auf die Bremse. Wie geisterbahnhaft der Reichsbauernführer im roten Bremslicht aussah! Wenn man ihm wenigstens diesen Arm abmachen könnte, dachte Paul wieder und sah sich sofort nach etwas zum Absägen um. Ein Flex-Trenner wäre gut, sagte er sich, aber warum sollte hier eine Flex herumliegen in diesem Schuppen aus verrotteten Kartoffelwagen, feuchter, stickiger Heuluft, Spinnenweben und Ringelnattern, die um die rot erleuchteten Obstkörbe herumschlängelten.
    »Der Arm muss auf jeden Fall ab! Die Skulpturen sind von innen hohl, diese auch, die schwimmt bestimmt, wenn wir sie so in die Hamme werfen!«
    Nullkück öffnete den Werkzeugkasten und nahm die Multisäge für seine Zinnsoldaten, sie glitt am ausgestreckten Arm ab wie Seife. Er legte sie in den Kasten zurück und beorderte Paul auf die linke Seite des Reichsbauernführers, er selbst stellte sich auf die rechte. Nun hievten sie den Mann auf die Schubkarre, fuhren ihn aus dem Schuppen und stießen die Karre um, sodass er auf der Seite lag.
    Nullkück sprang wieder auf den Hanomag, legte den Vorwärtsgang ein und fuhr über den gestreckten Arm. Der Trecker kippte fast um vor Schieflage. Wie ein Wagenheber hebelte der Grußarm den Hanomag samt Nullkück seitlich in die Höhe.
    »Das gibt's doch nicht!«, rief Paul. »Noch mal!«
    Nullkück setzte zurück, rangierte und versuchte es aus einem anderen Winkel. Dann endlich knackte es.
    Paul hob den Arm auf und steckte seine Hand in das Loch, das nun in Schulterhöhe aufgebrochen war. Wie sehr ihn der alte Kinderglaube immer noch bewegte! Er dachte einen Moment, die Seele, die im Hohlraum der Bronze so lange aufgehoben gewesen war, sei nun frei geworden und herausgewichen.
    »Was ist eine Seele?«, hatte er den Rilkesohn gefragt, als sie Pauls Kinderhose für den nächsten Tag ordentlich über den Stuhl legten.
    »Das kann man schwer beschreiben«, antwortete er. »Vielleicht ist die Seele ein wissender Strom, in dem alles Schöne und Schlimme, Leichte und Schwere fließt. All das, was du erlebt, was du vergessen oder als Kind nicht verstanden hast.«
    »Und wenn man tot ist? Wo ist jetzt die Seele von meiner Tante Marie?«, fragte Paul, um endlich richtige Antworten zu bekommen.
    »Wenn man tot ist, dann ist die Seele ein kleiner Wind. Du siehst sie in den Bäumen oder wenn sie das Wasser auf unserem Fluss aufschäumt. Je länger sie draußen herumweht, umso mehr vergisst sie, was Marie erlebt hat, aber nicht alles. Und wenn sie irgendwann wieder in einen Menschen hineinströmt, dann ist auch wieder ein Teil von Marie in der Welt.«
    »Aha. Aber mein Großvater kann Seelen festhalten, da ist der Wind in den

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