Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Brüder, Schwestern. Witwen trauerten nicht. Das habe ich indes mit Gott abgemacht.« (Abendunterhaltung in Varzin 1877) Bismarcks Geliebte hieß MARIE, die Ehefrau JOHANNA. (Zufälle gibts!) Johanna zum Geburtstag diesen Rockstar aus England schenken, der vor den Weibern durch Kanalsysteme flüchtet!! Schiebe ich im Arbeitsplan zwischen Bismarck und Nietzsche.
    18.April 1965:
     
    Bei Einstein, meinem ersten Juden, unbedingt Sockelgravur: E = mc2. Keine Lüge, lieber Luther, sondern die Relativitätstheorie! (Energie ist gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat. Klingt genial.) Las heute im Weser-Kurier über Einstein u. die Frauen: »Die Ehe ist der erfolglose Versuch, einem Zufall etwas Dauerhaftes zu geben.« (Einsteins Eheformel finde ich persönlich noch genialer als E = mc2!)
     
    Seine Großmutter hatte Einstein nicht gemocht, erinnerte sich Paul. Marie war das Schlimmste im Garten, danach kamen gleich Einstein und der Rote Franz, ihr war unbegreiflich, warum man so eine widerliche Moorleiche auch noch in Bronze gießen musste. Heinz Rühmann und Rilke hingegen waren ihre Schätzchen. Blätterfall-Rilke und Rühmann hatte Pauls Großvater ihr abgetreten, er zählte sie nicht mehr zu seinem Kreis, so wie man manchmal die Freunde der eigenen Frau zu seinen Feinden macht, weil sie im Zweifelsfall auf ihrer Seite stehen würden. Bei Einstein jedoch fand er alles, was er an seinem Eheleben verachtete und was er seiner Frau entgegensetzen konnte, so wie es Einstein mit seinen Listen getan hatte.
     
    Punkt A. Du sorgst dafür:
     
    1. Dass meine Wäsche instand gehalten wird.
    Dass ich drei Mahlzeiten IM ZIMMER ordnungsgemäß vorgesetzt bekomme.
    Dass mein Arbeitszimmer stets in guter Ordnung ist und dass der Schreibtisch MIR ALLEIN zur Verfugung steht. Punkt B. Du verzichtest auf persönliche Beziehungen zu mir, insbesondere:
    1. Dass ich bei dir sitze! (Aus »Leben mit Einstein«, großartiges Buch! Muss ich unbedingt Frau Kück vortragen!)
     
    Paul erinnerte sich, dass er seine Großmutter oft sprachlos und weinend vor ihrem Backofen gesehen hatte, wenn sie gerade aus dem Atelier des Großvaters gekommen war.
    Er blätterte zurück. Über Marie stand doch ganz vorne noch etwas?
    Der Eintrag war von der Schriftfarbe viel heller, nicht dunkelblau, wie die anderen Einträge, eher blass rötlich. Es roch ein bisschen nach Hildes Tintentod. 28. April 1945:
     
    (Marie). Gießerei fragen: Feuerfesten Kern bei Guss vergrößern für Hohlraum! Wandung 3 mm statt 5 mm möglich? Bronzekorpus (10er Bronze) mit handelsüblicher Stahlsäge korrigierbar? Das Auseinandergesägte (Längsschnitt) wieder lötbar? Naht, Risse? Wo in diesen Tagen Silberlot, Sägeblätter herbekommen? Seltsamer Tag. Es ist, als würde ich alles träumen.
     
    Begonnen hatte Pauls Großvater das Arbeitsjournal am 16. 5. 1940. Auf der ersten Seite stand:
     
    Ich wünsche mir sehr, dass ich diese Zeit überstehe, ohne ihr Geschöpf zu werden. Wir haben alle unsere Maßstäbe in uns selbst, nur werden sie zu wenig gesucht. Vielleicht auch, weil es die härtesten sind.
     
    Bis zum Marie-Eintrag am 28. April 1945 gab es während des Krieges keine einzige Notiz von seinem Großvater. Paul schlief unruhig. Seine Träume waren durchzogen von seltsamen Tönen und elektronischen Signalen in unterschiedlichen Höhen, so als ob jemand die Seele nach verborgenen Bomben absuchen würde. Er träumte von flackernden Lichtern in Berlin in der Brunnenstraße und wie in seine kleine unbesuchte Galerie große Scheinwerfer von Transportern hineinleuchteten, die Kovac wieder gestohlene Autos lieferten. Kovac stand da und warf sie zusammen zu einem einzigen Metallhaufen, aus dem sich aber diesmal keine gestohlenen Autos in neue und andersartige Autos verwandelten, sondern nun waren es Bronzemenschen, ganz viele Reichsbauernführer, die sich mit einem kalten Lächeln aus dem Eisenberg erhoben. Sie rollten umher, wie diese Metallkugeln aus der Orgasmusformel. Sie rollten übereinander her und vermehrten sich, obwohl sie ja überhaupt keine Becken, sondern nur erigierte Grußarme hatten: lauter erigierte oder von schlimmen historischen Frösten steif gefrorene Grußarme, weshalb auch nicht richtig gerollt werden konnte. Kaum setzten sie zu einer Rollbewegung an, da blockierte sie schon der steife Grußarm, der sich in den Boden bohrte oder in eine andere deformierte skulpturartige Metallkugel, aus der immer weitere kalt lächelnde Horrorkugeln entstanden, die nun