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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Unterschied zwischen der alles verödenden Beckenabwehrbewegung und der natürlichen vegetativen Beckenbewegung zu erfassen. Die Bewegung des Bauches, des Beckens und der Oberschenkel in einem Stück ist der Tod der vegetativen Beckenbewegung.
     
    Ah ja, dachte Paul. Vermutlich war so etwas auch beachtet worden, als er in dem Eichenschrank auf die Welt kam. Die »Orgasmusformel« war ebenfalls dick angestrichen:
     
    Spannung - Ladung - Entladung - Entspannung
     
    Dazu gab es folgende Erläuterung:
     
    Bei der Orgasmusformel denken wir uns zwei Kugeln, die eine starr aus Metall, die andere dehnbar, etwa wie ein lebender Organismus, ein Seestern, eine Schweineblase. Die Metallkugel wäre hohl und bekäme ihre elektrische Ladung von außen, der Seestern oder die Schweineblase hätte schon den Aufladeapparat im Zentrum in sich selbst.
     
    Hm, versteh ich nicht, sprach Paul vor sich hin. Zwei Kugeln, eine starr, die andere dehnbar mit was für einem Apparat? Das klang irgendwie sehr überfrachtet. Und wenn während seiner Zeugung so eine Orgasmusformel auch im Kopf seiner Mutter gewesen war, zusätzlich zu diesem Aufladeapparat im Zentrum in sich selbst - dann hatte ja nur eine komplizierte Mutter-Sohn-Beziehung dabei herauskommen können.
    Orgasmusformeln waren außerdem schmerzhaft an sich: Was machte denn Christina gerade in Barcelona, mit ihrem Herzen, Becken, Handy?
     
    Wenn ich dir vom geklonten bergschaf schreibe, dann ist das eine liebeserklärung. Wieso gehst du nicht ran, wenn ich anrufe? Wahrscheinlich installierst du gerade mit felipe einen Schlauchpilz ins genom einer fliege. Viel spaß. LG.
     
    Er warf das Handy und das Buch mit der Orgasmusformel aus dem Bett und griff zur Broschüre »Unser Teufelsmoor«.
     
    Es ist vor allem der Brodem des Moores, der den Himmel über Worpswede erscheinen lässt wie nirgends auf der Welt.
     
    Der Brodem! Paul fiel wieder die Malschule ein, in der er als Kind nicht nur Himmel malen musste, sondern auch die Gründe aufzählen sollte, warum der Himmel über Worpswede immer so glänzte, schimmerte, brannte, kämpfte und trauerte. Da ist also wieder der »Brodem des
    Moores«, dachte er, und wieder wird es nicht erklärt, so als wäre der »Brodem des Moores« das Selbstverständlichste der Welt!
    Er warf die Broschüre auch aus dem Bett und griff zum Arbeitsjournal seines Großvaters, das er sich aus dem Atelier mitgenommen hatte und in dem er den Eintrag mit den »Ecken in den Haaren« und den Revers-Schlitzen bei Willy Brandt suchen wollte.
     
    8. Mai 1955:
     
    Zehn Jahre ist es nun her. Während Deutschland kapitulierte, erschuf ich mein größtes Kunstwerk. (Marie!!!)
     
    Paul blätterte zurück, 27. März 1955:
     
    Bin schon in Gedanken bei Rodin. Die Bewegung ist seine Kunst, aber welche Bewegung werde ich ihm geben? Man stelle sich vor: Ein Mann mit drei Ateliers und in jedem wartet täglich ein Modell: Yvonne, Camille, die Engländerin usw. Lese Paul Claudels Journal und frage mich: Versteckte Rodin seine schwangeren Modelle auf dem Land in der Touraine?
     
    Paul blätterte weiter in die Siebzigerjahre, 5. Januar 1974. Da war es!
     
    Ecken in den Haaren. (Hinweis vom Enkel, der heute die Revers-Sache übernimmt!)
     
    Wie wichtig das damals war, dachte Paul. Und wie schön, diese kleine, aber für ihn so große Begebenheit wiederzufinden in den alten Seiten seines Großvaters. Wie ernst genommen und nützlich Paul sich fühlte, sogar im Nachhinein.
     
    Bei Brandt auf Linien, Kanten achten. Nicht zu viele Rundungen. Ein schweigender, ein ferner Mensch wie ich. Wenn man zu uns wollte, müsste man in die Falten steigen.
     
    Paul blätterte wieder zurück. 21. Juli 1969:
     
    In der letzten Nacht saßen alle Kücks vor dem Fernsehapparat. Wie soll ich die Mondlandung begreifen, wenn ich nicht einmal verstehe, wieso da Bilder aus der Röhre kommen? Bis auf den Mond! Und draußen stand er ruhig wie immer über dem Weyerberg. Dachte kurz über diesen Armstrong nach. Habe mich dann gegen einen amerikanischen Raumfahrer im Garten entschieden.
     
    17. Dezember 1964:
     
    Bismarck: (Soll zum 150. Geburtstag am 1. April nächsten Jahres in Osterholz enthüllt werden). Bismarck sagte: »Die großen Fragen der Zeit werden durch Blut und Eisen entschieden.« »Wurde von Weinkrämpfen geschüttelt! Habe die ganze Nacht durchgehasst.« (Tagebuch) »Ohne mich hätte es drei große Kriege nicht gegeben, wären achtzigtausend Menschen nicht umgekommen, und Eltern und

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