Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
nur noch, dass sie gleich aufsteht und sagt: »Mir ist so schwer ums Herz. Wie soll der Mensch leben?« Er versuchte sich wieder auf sein kleines Oligarchentum zu konzentrieren, mit dem er die westlichen Gelder nach und nach abpumpen würde. Wiepersdorf, Schöppingen und Schwalenberg hatte er schon, jetzt war gerade Worpswede für umgerechnet 50.000 Rubel monatlich dran. Die Bewerbung für das Schloss Solitude in Stuttgart war schon unterwegs, die Krönung sollte Rom werden, die Villa Massimo unter Palmen und Zitronenbäumen.
»Hamme, denn Lesum, later Weser«, sagte der Torfschiffer und zog am schwarzen Segel, das im Wind flatterte. Zwei Kraniche stiegen aufgeschreckt aus den Wiesen empor und flogen über der Hamme flussaufwärts in Richtung Tietjens Hütte.
»Die Unruhe!«, sagte Ana. »Überall zu sehen, was man erreichen könnte. Auf den großen Plakaten, in den Schaufenstern, im Internet, überall, was man alles erreichen könnte!«
Georgij konnte bei Anas Ansprachen nicht einmal mehr an sein persönliches Kapitalismussystem denken, geschweige denn an Sex. Er überlegte, endlich wieder Tetris zu spielen, dann sagte er, ebenfalls wie in einem russischen Stück: »Tja, was sollen wir tun? Uns erschießen oder leben, man muss doch leben, gibt es wenigstens Wodka auf diesem traurigen Torfkahn?«
»Ja, so etwas Ähnliches«, sagte Ana. Sie nahm den Butterkuchen und verteilte ihn. »In dieser Künstlerkolonie gibt es sehr viel Kuchen. Bist du bei uns in St. Petersburg ein berühmter Maler?«
»Mmh, klar ...Aber ist doch nicht so wichtig«, versuchte Georgij in der Lüge tiefzustapeln und sah dabei den Kranichen nach.
»Du bist also Professor an der Russischen Kunstakademie? Und verkaufst viele Bilder? - Hallo? Verkaufst du viele Bilder? Wenn du das Bild von mir malst und man eine Frau sehen könnte, die ich bin, aber in der man auch gleichzeitig erkennt, dass sie eine Kraft hat, mit der sie das Leben meistern kann ...«
Georgij suchte nach einem Thema, das vielleicht etwas davon wegführte, und fragte den Schiffer mitten in Anas süßliche Wünsche hinein: »What do you think, the two birds, are they Aying from Worpswede to Africa?«
»Hör doch mal zu, Georgij! Ich meine, wie auf diesen Bildern, die da oben in der Villa hängen! Malst du in Öl? - Hey, so toll sind die Vögel auch nicht, kümmere dich lieber um die Menschen. Malst du in Öl? In Öl bitte!« Sie war jetzt im Torfkahn aufgestanden und drei Köpfe größer als der Torfschiffer. »Gegen alles muss etwas von innen anleuchten, weißt du, was ich meine? Könnte ich so eine Frau auf dem Bild sein? Lass uns heute anfangen!«
Georgij steckte sich ein Stück Butterkuchen in den Mund, um Zeit zu gewinnen. In seinem Kopf arbeitete es. Er sah, wie sie die Krümel vom Kuchen aus ihrem Schoß strich, und versuchte sich wieder vorzustellen, wie diese Beine um sein Becken geschlossen auf und ab baumeln würden. So wie der Torfschiffer Ana anstarrte, war das auch wahrscheinlich eine ganz normale männliche Vorstellung, dachte Georgij, allerdings konnte er sich weniger vorstellen, wie er das Bild malen sollte, er konnte ja gar nicht malen! Auch waren der Keilrahmen, die englische Ausgabe des Malkunde-Buchs »The technique of plein-air-painting« sowie diese verdammte Stretch-but-do-not-Overstretch-Spannzange eine komplette Fehlinvestition!
Sein persönliches Kapitalismussystem begann erstmals zu straucheln. Bisher war alles spielerisch einfach gewesen: Westliche Gremien und Regularien waren tauschbar und bezwingbar mit einem trickreichen Verstand und einer Einstellung, die man sich in allen Bereichen, ob Bank, Börse, Erdgas, Stahl oder Privatisierung, abschauen konnte - ja, mit der Aneignung solcher Einstellungen aus diesen Bereichen und angewendet auf den eigenen Bereich, da konnte man sehr gut in der neuen Welt zurechtkommen. Wie aber jetzt die pinkfarbenen Beine zum Baumeln bringen?
Maler müsste man sein, dachte Georgij. Jeder Mann auf der Welt, ob Bank, Stahl oder Malerei, tat das, was er tat, um am Ende sinngemäß pinkfarbene Beine baumeln zu sehen, so war es doch? Hier in Worpswede simulierte Georgij zwar nur die moderne russische Malerei, er verhielt sich wie eine Verheißung, die um Himmels willen aufpassen musste, dass niemand kam, um sie auf ihren wirklichen Wert zu bemessen, aber wer machte das schon, dafür ließ sich doch die ganze Welt viel zu gerne blenden? Er musste nur cool bleiben, simulieren und blenden und die Zeit mit Tetris
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