Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
fragte der Mann.
Ana nickte.
Einmal Schippern kostete 18 Euro pro Person inklusive Butterkuchen und Kaffee. Georgij hatte sich vorsichtshalber seinen Gameboy in die Tasche gesteckt, weil er noch nicht wusste, wie er mit der schwesterlichen Behandlung umgehen sollte, die ihm in der Nacht durch Ana zuteilgeworden war. Möglicherweise würde er ihr nun ebenfalls mit Desinteresse begegnen und auf dem Torfkahn Tetris spielen. Er träumte sogar in letzter Zeit von Klötzchen und Quadraten, die vom Himmel herunterfielen und die er auch im Traum so zu drehen versuchte, dass sie sich unten auf der Erde ankommend lückenlos ineinanderschoben.
Der Torfschiffer setzte seine großen Holzschuhe auf den Kahn. Er putzte sich die Nase mit einem Stofftaschentuch, das seltsamerweise fast so groß war wie die Flagge über Neu-Helgoland, und stopfte es Stück für Stück wieder in seine Hose. Dann griff er nach dem langen Schieberuder, versenkte es im braunen Wasser bis zum Grund und schob den Kahn hinaus auf den Fluss.
Ana hielt einen Fuß über den Rand und spielte mit dem Moorwasser.
Georgij sah zu, wie ihr Fuß immer wieder in den Fluss drang und der pinkfarbene Nagellack durch die Oberfläche schimmerte. Was wohl in Anas Kopf vorging, fragte er sich: Sie füllt den Kühlschrank, bleibt dann ein paar Wochen und gibt ihm jeden Abend ein kleines, schwesterliches Küsschen auf die Stirn, in zehn Bettdecken eingerollt? Was stellte sie sich eigentlich vor? Dass eine Frau bei einem Mann wohnen durfte und am Ende sprang kein Gegenwert dabei heraus? Schließlich lebten sie jetzt in einem anderen System, dachte Georgij. Gerade die Russen hatten doch der ganzen Welt vorgemacht, wie man das neue System auf die Spitze trieb, sich bezahlen ließ oder selbst bezahlte. Mit was gedachte denn diese Frau zu bezahlen, mit einer Kühlschrankfüllung und einer Kahnfahrt auf einem braunen Fluss? Und was machte sie denn sonst mit ihrer Unterwäsche? Das war keine normale Unterwäsche, die er am Vormittag in den Händen gehalten hatte. Diese Durchsichtigkeit! Und das andere, war das Latex? So etwas hatte doch eine bestimmte Funktion?
»Dat nöömt wi Staken. Dat gifft Staken und Wriggeln. Nu staak ik dat Schipp!«, erklärte der Torfschiffer und starrte vom Heck ohne Scham und irgendeine vorgetäuschte Beiläufigkeit ebenfalls auf die pinkfarbenen Beine, so als betrachtete er sie wie die gegebene Natur. Wie eine Uferschnepfe, eine Birke oder einen Flussarm der Hamme. Einmal schien er die Beine mit seinem langen Schieberuder zu vergleichen.
»Schöner Fluss«, sagte Ana. Sie legte sich auf den Rücken und sah in den Himmel, der am Horizont in die Wiesen fiel und in den die Kühe hineinliefen, als würden sie in den Wolken wohnen.
»Kennst du einen glücklichen Menschen?«, fragte sie.
»Einen glücklichen Menschen?«, wiederholte Georgij und verfolgte ihre Blicke, um herauszufinden, woher diese Frage kam.
»Weiß ich nicht. Da muss ich nachdenken«, sagte er und stellte sich vor, er wäre ein russischer Oligarch, der sich die Frau mit Haut und Haaren kauft, samt Unterwäsche. Er malte sich aus, wie sie den pinkfarbenen Anzug abstreifen und sich mit ihrer weißen Haut und den rotbraunen glatten Haaren auf den schwarz geteerten Torfkahn willig hinlegen muss, den Kahn hat er auch mitgekauft, plus Schieberuder.
Im Prinzip war er ja auch ein Oligarch, dachte er, ein kleiner. Die großen Oligarchen pumpten alle Energie- und Rohstoffarsenale mit einer gigantischen Pumpe aus Russland ab in den Westen und ließen sich dafür bezahlen; er selbst, Georgij Alexksej Petrov, pumpte Fördergelder für Kunst aus dem Westen ab nach Russland, um in St. Petersburg gut über die Runden zu kommen. Weder scherten sich dabei die großen Oligarchen um Russland, noch scherte sich der kleine Oligarch um die Kunst. Aber so war eben der Kapitalismus, und Georgij war stolz darauf, einen schlauen, sogar globalen Weg gefunden zu haben, Nutzen zu ziehen. Nutzen musste man aus dieser Welt ziehen, Nutzen!
»Mich!«, antwortete Georgij. »Ich bin glücklich. Mir geht's gut!«
»Aber denkst du nicht, dass wir immer glauben werden, den anderen geht es viel besser als uns?«, fragte Ana und richtete sich auf. »Meine Mutter war lange Zeit eine einfache Frau, das war eben so. Aber jetzt ist sie verzweifelt. Immer wollte sie zurück nach Deutschland. Nach Deutschland, das war ihr Märchenland.«
Sie redet wie eine Figur aus einem alten russischen Theaterstück, dachte Georgij. Fehlt
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