Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
Vom Netzwerk:
verbringen. Zurück in St. Petersburg würde er seinerseits mit seinen Euros die Beine sinngemäß zum Baumeln bringen. Jeder auf seine Weise und innerhalb des Systems. Nur wirkliches Malen war nicht vorgesehen! Und dann auch noch eine Frau in Öl, in der man eine Kraft erkennen sollte, mit der sie das Leben meistern konnte? Und in der man von innen etwas gegen die Traurigkeit anleuchten lassen musste oder so ähnlich? Oh Gott, war das alles kompliziert geworden! Was für einen Druck er spürte! Seine Ruhe war dahin, und Tetris spielte er auch nicht mehr.
    »Pass mal auf«, sagte er. »Du fragst mich ständig nach Geld? Und was ich verkaufe? Was willst du von mir?« Ficken und Doswidanje war angesagt, dachte er noch, aber er würde niemals seine schönen Euros nehmen, damit er im Westen eine Russin durchbrachte!
    Dann biss er vom Butterkuchen ab und sah sie feindselig an.
     

Anton Rudolph mit Dutschke im Badesee, Nullkück bei landflirt.de - und erneuter Besuch
    Paul stand vor dem Küchentisch. Der Brief war weg, der Silberarmreif auch. Fertige Buchweizenpfannkuchen gab es auch nicht wie sonst. Stattdessen lagen Blätter da, die Nullkück aus dem Internet ausgedruckt und auf den Tisch gelegt hatte. Wie schnell er immer alles ausdruckte. Je langsamer er mit seinen Worten war, je schleppender er einzelne Worte überhaupt hervorbrachte, desto schneller druckte er etwas aus und legte Paul die Seiten hin. Er googelte den Reichsbauernführer, mischte mit auf landflirt.de, mailte nach Berlin zu Kovac. Er mailte auch Brünings Frau Tille, mit der er schon vor dreißig Jahren in Kontakt getreten war, als er sie als junge Bäuerin auf dem Feld beobachtet und ihr von Brüsten geschrieben hatte, die sich vortasteten in die ersten Liebesträume wie der Vorfrühling. Regelmäßig war er auch verbunden mit Lanzarote, wohin er den Stand der Gipsmarken mailte und was es sonst noch der Kück-Erbin zu berichten gab. Nullkück schwang sich auf seinen alten verklebten Computer wie auf Flügel, mit denen er wegfliegen konnte aus dem Moor und aus seinem sprachlosen Leben.
    Paul setzte sich an den Küchentisch und löffelte aus dem Topf mit dem Buchweizenteig.
    Auf www. google. com/search= taz+Rudolph-bremen.de hatte Nullkück herausgefunden, dass Anton Rudolph 1989 mit dem Bremer Preis für Heimatforschung ausgezeichnet worden war. Gegenstand seiner Forschung war der Bunker Valentin am Weserufer in Bremen-Farge. Die Bunkerwerft war von 12.000 Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen unter grausamen Bedingungen errichtet worden und hatte der Produktion von U-Booten dienen sollen. »Ab nach Farge« war das gefürchtetste Wort der Gestapo in Bremen gewesen.
    Nullkück hatte auch einen Artikel von Anton Rudolph ausgedruckt. Er hieß »Die Straße der Barbaren« und handelte von der Bremer Böttcherstraße. In der Böttcherstraße hatte Paul früher mit seiner Mutter die Weihnachtsbesorgungen gemacht. Es gab ein Glockenspiel, ein Legogeschäft, duftende Bienenwachskerzen, Tausende von Teesorten und Schokolade. Seine Mutter nannte die kleine rote Ziegelsteingasse mit den Jugendstil-Giebeln nicht die »Straße der Barbaren«, sondern die »Märchenstraße«, außerdem kannten die Kücks den Bauherrn persönlich, Ludwig Roselius, den Erfinder des koffeinfreien Kaffee-HAG.
    Paul hielt das Papier in den Händen und stocherte im Teig herum. Auf der Seite war auch das Schwert abgebildet, er konnte sich noch an den goldenen Mann oder Engel mit dem goldenen Schwert über dem Eingang der Straße erinnern, »Lichtbringer« wurde er genannt. So ein Schwert hatte sich Paul als Junge immer gewünscht, doch nun war es schwarz, Nullkück waren wohl die Farbpatronen ausgegangen.
    Anton Rudolph war schon pensioniert. Auf www. deutschlandstudien.uni-bremen.de hatte Nullkück eine Seite über Rudolphs Verabschiedung durch die Universität gefunden und ausgedruckt. Anlässlich der Uwe-Johnson-Tagung »Jahrestage: Gedächtnisräume und Identitätskonstruktionen« hatte man ihn nach vorne gebeten und Blumen überreicht. Auf der Seite gab es auch ein Foto, das von der Qualität noch schlechter war als das Schwert.
    Es war eine Aufnahme nach der Blumenübergabe, auf der zwei weitere Männer zu erkennen waren, die Rudolph offensichtlich verabschiedeten. Paul sah die für Rudolphs Alter zu langen Haare, aber immerhin hatte er noch in dem Alter Haare, sie fielen grauweiß auf die Schultern eines etwas zu großen Jacketts. Mehr konnte man nicht sehen, nur graue Haare,

Weitere Kostenlose Bücher