Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Schlabber-Jackett, Blumen,Turnschuhe.
Mein Gott, der sieht ja aus wie ein Alt-68er aus dem Katalog, dachte Paul, er hätte ihn nicht wiedererkannt. Traurig sah der Mann aus. Die beiden anderen Männer schienen in ihrer Körperhaltung schon kurz vor dem Auseinandergehen, nur Rudolph wirkte so, als würde er für immer stehen bleiben wollen mit seinen Blumen, selbst wenn alle anderen den Raum nach der Verabschiedung längst verlassen hätten. Aber wenn er nun pensioniert war, wieso konnte er dann zu den Kücks in den Garten kommen, um an seinem »Norddeutschen Lexikon« zu arbeiten, im »Auftrag der niedersächsischen Gedenkstätten«?
Klar, dachte Paul, ein richtiger 68er lässt sich ja nicht pensionieren! Der macht weiter! Und der darf auch einfach weitermachen, gerade an einer Uni wie Bremen.
Paul hielt eine Seite von der »naschkatze49« in der Hand, die war Nullkück wohl dazwischengeraten Vermutlich war er der Meinung gewesen, die »naschkatze49« aus Oyten müsse neu ausgedruckt werden, weil sie neue Fotos online gestellt hatte. Sie trug jetzt keinen Buntfaltenrock mehr, sondern präsentierte sich im Bikini. Paul legte ihr Bikini-Bild neben das 68er-Bild von Anton Rudolph mit den Turnschuhen und den Blumen.
Nullkück hatte noch eine Shopping-Leiste angeklickt und auf www.lotus-verlag/mein-leben/unipress/03-208 Informationen über eine Broschüre gefunden, die Rudolph über seinen Vater verfasst hatte, der Chefkellner im »Platterhof« auf dem Obersalzberg gewesen war. Paul sagte das nichts. Er las die kleine Leseprobe.
Das Lachen meines Vaters wollte kein Ende nehmen, wenn er uns erzählte, wie vielen Amerikanern er nach dem Krieg die Führertasse mit dem großen Hakenkreuz verkauft hatte. Immer wieder habe er die Originalführertasse vor den Augen der Amerikaner aus dem Panzerglasschrank seines eigenen Gasthofs in Traunstein genommen, in Watte eingewickelt und gegen einen Scheck überreicht. Das wirkliche Original aber, die Einzelanfertigung einer hochwertigen Edelporzellantasse aus einer Berchtesgadener Reichsmanufaktur, stand in der Küche, daraus trank er selbst: er und der Führer, vielleicht noch Eva Braun.
Paul tropfte der Buchweizenteig auf die Zeilen. Es gab noch eine Erklärung zum »Platterhof« auf der Seite: Erst hieß er »Moritz-Pension«, wurde dann vom Gastwirt Bruno Büchner in »Platterhof« umbenannt, bevor er später in den Besitz von Martin Bormann überging, dem Nazi-Verbrecher.
»Gnadenlos«, titelte der Lotus-Verlag, habe Rudolph seinen Vater ans Messer geliefert. Einen Mann, der jeden Abend die Führertasse eigenhändig in die Küche trug, um sie spülen zu lassen und wieder in den Eckschrank vom »Platterhof« zu stellen. Und der nach dem Krieg nicht aufhörte, sondern im Gegenteil, er bereicherte sich noch immer weiter an der Führertasse, die er an Bruno Büchner vorbeimanövriert hatte, um sie hundertfach kopieren zu lassen und den Amerikanern vorzusetzen.
Paul musste an seinen Traum mit den ganzen umherrollenden Bauernführern denken. Er starrte auf das ebenfalls abgedruckte Deckblatt der Broschüre: »Mein Vater Kurt Rudolph«, darunter »Von Anton Rudolph«, mehr war nicht zu erkennen. Wie traurig, dachte Paul. Erst ist man Sohn und am Ende bleibt vom eigenen Vater so eine Broschüre. Erst auf dem Schoß des Vaters zu sitzen, ihn zu lieben, weil es der Vater ist. Größer zu werden, in die Schule zu gehen, Geschichtsbücher zu lesen, sich immer mehr zu schämen, Verachtung zu spüren und trotzdem Sohn zu bleiben und irgendwann zu platzen: Abrechnen, sich befreien wollen, sich das Fleisch wegschneiden, die Herkunft rausreißen oder die Erbanlagen heraussaugen wie Schlangengift. Paul stellte sich einen kleinen Jungen vor, der mit einem Schwert auf einen Mann einschlug, der tot dalag und dessen Hände immer noch mit der Todesstarre eine Tasse umkrallten. Der kleine Junge schlug immer wieder auf die Hand des Vaters ein, aber sie ließ die Tasse nicht los.
Paul überflog noch einmal das Porträt über Rudolph: die Schuhe, die er angeblich Dutschke geliehen hatte, diese ganz bestimmten Wildlederhalbschuhe, Größe 42, das Baden im Werdersee.
Die Revolution war in Bremen angekommen. Es war kein normales Baden. Es war ein Akt der Befreiung.
War es ungerecht, sich darüber lustig zu machen? Paul kam gar nicht an gegen die verengenden, reduzierten, ja, folkloristischen Bilder, die er sich von dieser Zeit machte. Auch war ihm, als würde er schon alles über
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