Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

den Oyter See? Wenn du rudern kannst, dann wäre der erste Schritt getan.
     
    Paul warf sich auf Nullkücks Bett. Er wollte einmal ausprobieren, ob man mit einer Ödlandfrau überhaupt in solch einem Bett liegen könnte, und sank ab wie in eine schützende Mulde. Er stellte sich vor, mit dem Hanomag nach Oyten zu fahren. Er würde am Ufer warten, verzweifelte SMS nach Barcelona senden und Nullkück die Frau stumm über den See rudern.
    Er sah kopfüber aus dem Fenster in den Garten. Erst hörte er ein leises Signal, ein pulsierendes Fiepen, dann erkannte er die Turnschuhe. Das waren doch Anton Rudolphs Turnschuhe von dem Foto, die sich durch den Garten bewegten! Paul sah noch ein Paar Straßenschuhe und auch Gummistiefel.
    Sie waren jetzt dicht vor dem Fenster. Der zweite Mann, zu dem das andere Paar Schuhe gehörte, hatte ein Gerät dabei und hielt es mal hier, mal da in den Moorschlamm, so als suche er Landminen oder Bomben. Der dritte war Bauer Gerken.
    Paul sprang aus dem Bett. Er musste dabei Schwung nehmen, um aus Nullkücks schützender Mulde herauszukommen, brauchte aber nicht mehr aus dem Zimmer und durch die Haustür zu laufen: drei, vier, fünf dumpfe Schläge, dann stand Jan Brüning mit seinem Abrisswerkzeug in dem Loch der Wand und entstaubte seine Mütze.
    »Moin, moin. Allens na Plaan. So maakt wi dat!«, sagte er.
    »Gut, gut«, erwiderte Paul und sah durch das Loch nach draußen.
    Träumte er wieder? Was stand da mitten im Garten? Wie lange lebten die Gespenster? Wie tief saß die Vergangenheit in diesem Land, dass die Gegenwart nie beginnen konnte?
     

Der Neue im Garten!
    Es war wieder Gerken, der alle in Kenntnis setzte. Er wollte nur seinen Trecker holen und blieb lange, wie versunken, vor dem frisch ausgegrabenen Bronzemenschen stehen, der dieses Mal circa zwei Meter dreißig groß war, noch größer als der Fund vor einigen Tagen. Gerken erklärte, dass ihm dieser persönlich noch besser gefiele als der erste, dann gab er eine kurze Erläuterung, wobei er ein paar mal laut und geradezu beglückt »Backe, Backe!« rief. »De weer de Beste! Wat hier wedder allens opdükern deit!« »Opdükern« hieß »auftauchen, heraufsteigen, zu Tage treten«. Danach ging Gerken zu seinem Trecker. Er schnäuzte sich, glühte vor und fuhr die Einfahrt hoch.
    »Ich lass das Ding hier nicht mehr aus den Augen!«, sagte Peter Ohlrogge, in dessen Gesicht ein kaltes Lächeln zog vor Genugtuung. »Die glauben wohl, die graben was aus und lassen das dann einfach so verschwinden, als sei nie etwas gewesen! Und plötzlich kommt bei den Kücks noch so ein Monstrum zum Vorschein! Ich lach mich tot. Wenn ich nicht den Vorgänger kriege, kriege ich eben den Nachfolger! Informiere die Spedition, ich bleibe hier so lange stehen, bis der Transporter kommt!«
    Der Mann neben ihm war Norbert Bäumer, ein Kollege aus der »Malschule Paula«, deutlich jünger, neu in Worpswede, und seit sie sich zufällig im Don-Camillo-Club begegnet waren, pflegten sie so etwas wie eine Komplizenschaft. Ohlrogge hatte ihm schon im Bordell sein ganzes Lebensthema unterbreitet. Er hatte erklärt, wie man mit Hobbymalern im Moor fertig wurde, und väterlich vor den Gefahren einer Künstlerkolonie gewarnt. Auch glaubte er sich in ihm wiederzuerkennen - damals, als er in Worpswede eingetroffen war und sich so viel vom Leben erwartet hatte.
    Bäumer, der auf die Idee mit dem Metalldetektor gekommen war, dankte Brünings Leuten für die Bergung und fotografierte den Fund. Irrtümlicherweise war er schon am frühen Morgen in Jahns Garten gewesen und auf dem Detektor waren bereits deutliche Signale eingegangen, als ihm der verspätet eingetroffene Ohlrogge erklärte, dass es sich hierbei um den falschen Garten und den falschen Bildhauer handele und sie hinüber zu dem Nachbarn müssten.
    Ohlrogge trat nun im richtigen Garten näher an den Fund heran, stellte sich erst auf den Sockel, dann auf Fußspitzen und kratzte mit ausgestrecktem Arm Moorschlamm und Bleichmoose aus den eng stehenden Augenhöhlen.
    Paul war in den Garten gelaufen und stand direkt vor dem Bronzefund. Wieder so ein Riese!, dachte er. Riesiger als der, der jetzt in der Hamme war! Mit den lebensgetreuen Originalgrößen der anderen Männer im Garten hatte das nichts mehr zu tun. Sein Großvater schien seine sonstige Genauigkeit zugunsten einer machtvollen Überhöhung aufgegeben zu haben. Und es konnte wahrscheinlich auch kein Zufall sein, dass gleich zwei der Vergrabenen gigantisch