Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
versank. Von Wangenheim mit Pferd war der Schwerste. Danach kam Luther.
SMS von Christina:
Habe mein zimmer hellblau gestrichen + eingerichtet. Schreibtisch am fenster. Morgen geht's im labor los. Draußen sonne. Leben. Alles so neu, so schön. Man kann ja in barcelona warten, bis der wedding gekommen ist. Besuch mich doch! LG
Das hat sie doch schon heute Morgen geschrieben, dachte Paul. Er saß wieder in seinem Weltverlorenheitscafe und starrte auf das Display. Diese Besuch-mich-doch-LG-Droh-SMS einfach noch einmal zu schicken, sagte er sich. Wieder ohne Glückwunsch! Wieder mit ihrem Labor und ihrem neu eingerichteten Leben, an das er sich dranhängen sollte! »Man kann ja in Barcelona warten, bis der Wedding gekommen ist.« »Erst kommt ein Hund, dann kommt John Travolta«, hatte sie ihm beim letzten Besuch in der Galerie gesagt, das war abfällig. Er beantwortete die SMS nicht.
»Habt ihr eigentlich Butterkuchen?«, fragte er.
»Nö«, sagte die bezaubernde Frau hinter dem Tresen mit den Brownies.
Paul fragte, warum denn überall an den Wänden des Cafes »Ruf mich nie an« stehen würde. Draußen stand neben der Tür, man solle »niemals alle Eier in einen Korb legen«, drinnen: »Ruf mich nie an«?
»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Ist das ein Problem für dich?«
Paul verließ sein Verlorenheitscafe, er hatte mit der Frau ja nur ins Gespräch kommen wollen. Er ging die Brunnenstraße hoch in den traurigen Westen und erkundigte sich in einer Bäckerei nach ofenwarmem Butterkuchen: gebacken auf mittlerer Schiene, womit man die typische Helle des norddeutschen Butterkuchens erzielte, mit einer Packung Vanillezucker und einem knappen halben Teelöffel Salz, das flüssige Ei-Butter-Gemisch in den Teig hineingeknetet, die Milch nicht zu heiß, sonst starb die Hefe.
»Sonst noch Wünsche?«, fragte die Frau.
»Nein«, sagte Paul und nahm das Stück, das es gab.
Es war natürlich viel zu braun, die Höhe des Bodens nicht mal 1,5 Zentimeter, der Teig war garantiert nicht richtig aufgegangen, seine Großmutter nahm immer die Hefe von Dr. Oetker und die Milch von Renkens Nordkühen.
Paul lief mit dem Stück Butterkuchen die Brunnenstraße hoch und es war wie ein Versuch, wenigstens diesen kleinen Halt aus der alten Zeit durch Berlin zu tragen.
Beim Händler mit den verlorenen Ostzeiten
Er hielt an einem Blumengeschäft, das ihm bisher nie aufgefallen war, und überlegte, Blumen zu schicken statt SMS, Blumen für Christinas Schreibtisch, das wäre ein kräftigeres Zeichen als diese zwischen allen anderen Dingen dahingetippten SMS.
Drinnen saß ein älterer Mann und schlief. Er war auf dem Stuhl heruntergerutscht und auf seinem Schoß lag eine Tüte mit Frischhaltepulver.
»Hallo?«, sagte Paul vorsichtig.
Der Mann schreckte hoch, rückte seine Brille zurecht, sah auf die Uhr und redete wie ein Wasserfall. Das sei ihm noch nie passiert in fünfunddreißig Jahren Brunnenstraße; zu Ostzeiten nicht, als er nur Kunstblumen verkauft habe, und zu Westzeiten auch nicht, in denen alles schlechter geworden sei, obwohl er doch jetzt richtige Blumen habe.
Trotzdem sei früher alles besser gewesen, als es noch eine Mauer gab und dahinter Kunstblumen, er wolle gar keine richtigen Blumen, Kunstblumen mit einer schützenden Mauer davor wären ihm lieber!
»Entschuldigung, haben Sie Fleurop?«, unterbrach ihn Paul, als sein Handy klingelte, seine Mutter. Er wollte es einfach klingeln lassen, schon allein die Vorstellung überforderte ihn, dass sie ihn jetzt wieder fragen könnte, ob der frische Salatkopf in Berlin eingetroffen sei. Und wenn es etwas Dringendes war? Er dachte eigentlich jedes Mal, dass es etwas Dringendes sein könnte, wenn sie anrief. Er ließ es meist fünfmal klingeln, während er beim zweiten Klingeln entschied, nicht ranzugehen, beim dritten unsicher wurde, beim vierten sich vorstellte, wie sie in einen der gefährlichen Lanzarote-Kreisel hineingerast war und einem Lkw die Vorfahrt genommen hatte und sich jetzt aus dem Krankenwagen ein letztes Mal zu ihrem Sohn durchstellen ließ. Beim fünften Klingeln nahm er ab.
»Alles in Ordnung?«, fragte er direkt.
»Paul, das Haus!«, rief sie, sie klang wirklich in Not. »Ich habe vorhin den Stand der Gipsmarken durchbekommen, das Haus sinkt immer mehr!«
»Fleurop? Fleurop?!«, sprach der Blumenhändler dazwischen. »Immer musste kiek'n, wat die andren anbieten und wat deen' ihre Blumen kosten statt dit alle Blumen kosten, wat
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