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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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se kosten und Ruhe is'!«
    »Ich kann jetzt gerade nicht«, entschuldigte sich Paul.
    »Nimm den Zug nach Bremen. Fahr in unser Dorf und setz dich dort mit Brüning in Verbindung.« Die Stimme seiner Mutter zitterte. »Es ist auch dein Haus und das deines Großvaters. Wir haben immer überlegt, ob wir etwas Großes daraus machen können, weißt du noch?«
    Sein Großvater hatte das Haus in Worpswede 1937 erworben und nach und nach umbauen, das Fachwerk erneuern und das Dach mit Reet decken lassen. Das einzige Problem war, dass das Haus im Teufelsmoor stand. Und dass es Jahr für Jahr um ein paar Zentimeter mehr darin versank. Paul hatte immer gedacht, dass er eines Tages das große Haus mit dem Grundstück verkaufen könnte, wenn er in Berlin scheitern sollte und Geld brauchen würde, was ja relativ wahrscheinlich war, doch dafür durfte das Haus, sein Erbe, nicht im Teufelsmoor versinken.
    »Wat krumm jeloof'n?«, fragte der Blumenhändler mit den verlorenen Ostzeiten.
    »Da, wo ich herkomme, versinken die Häuser«, sagte Paul und überlegte, ob er eine Tasche oder einen Koffer packen sollte für die Heimat und wie lange er dort wohl bleiben würde.
    »Wat denn, wie kann eenem denn dit Haus versink'n?«, fragte der Blumenhändler. »Wenn es keinen Halt mehr hat«, antwortete Paul.
     

Zweiter Teil
In der Künstlerkolonie

Ankunft im Moor (Nullkück und das Großvaterhaus)
     
    Am Vormittag stand Paul im Moor. Nullkück hatte ihm bereits die Gipsmarken gezeigt, die er seit vielen Jahren zur Kontrolle an die Außenwände setzte. Das Haus war in den vergangenen vier Monaten um fast fünf Zentimeter abgesunken.
    Paul rief sofort bei der Baufirma Brüning an, aber Jan Brüning, hieß es, machte Mittag und saß zu Tisch.
    »Gott, Gott«, stammelte Nullkück, trampelte mit seinen Gummistiefeln im Moor herum, das aufgrund der starken Regenfälle nicht mehr trocken zu kriegen war.
    »Bestimmt die Klimakatastrophe«, sagte Paul und klopfte Nullkück auf die Schulter, der die Fäuste zum Himmel hob und bemüht schien, etwas Grundsätzliches zum Ausdruck zu bringen. Vielleicht zu diesem Haus, in dem sie beide groß geworden waren und in dem Nullkück noch immer lebte. Vielleicht zur Begrüßung von Paul, der lange nicht mehr hier gewesen war. Doch dieser erste Morgen, an dem sie sich wiedertrafen, schien noch zu unvertraut. Am Ende rief er »Klima, Klima«, streckte dabei eine Faust nach oben und stieß gleichzeitig den Fuß wütend in den weichen Boden, so als gäbe es irgendetwas zwischen Himmel und Erde, das ihm sein Leben in diesem Haus lassen sollte.
    Paul hatte nie begriffen, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis er zu Nullkück stand. Früher sagte er meist Onkel, weil Nullkück ihm so vertraut erschien, auch waren die Bezeichnungen, wie man den Sohn vom Bruder seines Großvaters nannte, viel zu kompliziert. Außerdem gab es noch Gerüchte: Nullkück sei ein Adoptivkind, ein unehelicher Sohn von Mackensen, dem Koloniegründer. Und Hilde, die Mutter, in Wirklichkeit gar nicht die Mutter, da sie angeblich unfruchtbar sei. Auf jeden Fall war Nullkück geistig ein bisschen debil, ein »Torfkopp« oder »Tüffel«, wie Pauls Großvater das bezeichnete. Aus so einem Menschen werde nun mal nichts im Leben, und er brauchte eigentlich auch überhaupt nicht da zu sein, sagte der Großvater und nannte ihn »Nullkück«, was so viel hieß wie »kein Kück«.
    Paul wunderte sich schon als Kind, dass dieser Verwandte mit dem komischen Namen immer jünger aussah, als er war. Vielleicht lag es an seinem kindlichen Gemüt, den schönen, etwas zu großen blauen Augen, die ständig in Bewegung waren und zart leuchteten; an dem immer noch kräftigen, blonden Haar, das er sich selbst schnitt wie Prinz Eisenherz. Er trug seit 1955 die grauen Hosenträger, die ihm Hilde geschenkt hatte und die abwechselnd eine dunkelblaue oder eine dunkelbraune Cordhose hielten. Dazu uralte, aber robuste Leinenhemden, er hatte fünf solcher Hemden, tausendmal gewaschen, alle milchgrau. Und da es in dieser Gegend nicht unüblich war, wenig zu sprechen, fiel seine Behinderung nur dann auf, wenn er etwas sagen wollte und er immer dieselben Worte hintereinanderreihte. Es war dann eine große Traurigkeit in seinen Augen, die Sätze und Reden lagen darin wie eine Sehnsucht, wie Gedanken unter dem Eis.
    Als Kind hatte Paul diesen Nullkück geliebt. Er war ungefähr zwanzig Jahre älter, aber man konnte mit ihm spielen und er war der Einzige, der Paul wirklich

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